Mann, Frau, Affe. Volker Hagedorn

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Mann, Frau, Affe - Volker Hagedorn

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Streifen für Ringo

      Natürlich finde ich sie toll. Alle ihre Stücke, von vorn bis hinten, aus diesem magischen Jahrzehnt. Jeder Wurstverkäufer, jeder Waffenhändler, jeder Hund und jede Katze und die meisten anderen finden mittlerweile die Beatles toll, und dass die Musik davon nicht schlechter wird, ist womöglich das krönende Indiz für ihre Qualität. Innerhalb dieser Gemeinde gehöre ich aber womöglich zu einer Minderheit, wenn ich sage, dass ich es vollkommen unötig finde, was neulich der Fremdenverkehrsminister von Großbritannien getan hat. Er hat die Zebrastreifen unter Denkmalschutz gestellt, über die einst die vier Musiker schritten, um sich fürs Cover von »Abbey Road« fotografieren zu lassen.

      Konsequenterweise müsste man dann alle Plätze, Straßen, Häuser, Landschaften, die herausragend in der Weltkunst verewigt wurden, im Originalzustand belassen. Für größere Objekte wie Canalettos Dresden und das Paris Balzacs vor dem Bau des Eiffelturms ist es zu spät, man kann auch nicht Themse und Ärmelkanal für alle Schiffe sperren, die anders aussehen als die von William Turner gemalten, man fände auch kaum noch kompetentes Personal. Sogar das Lönneberga von Michel bzw. Emil, wie er im Original heißt, sieht nach hundert Jahren anders aus, als Astrid Lindgren es kannte. Und welche der von Ottorino Respighi vertonten »Pinien von Rom« rauscht heute noch im Wind?

      Es wäre doch grauenhaft, wenn Kunst jede Welt, von der sie ausgeht, in der Realität wie in Gießharz erstarren ließe. Von den vergänglichen Zebrastreifen in der Abbey Road sind jene unvergänglichen, über die das Quartett seit August 1969 marschiert, unabhängig. Sie existieren als Cover und in den Köpfen und führen ins Unermessliche. Denkmalschutz für Requisiten und Modelle ist dagegen total beschränkt. Oft ist Kunst sogar noch schöner, wenn man nicht mal das Modell kennt. Mit sechzehn habe ich »Penny Lane« für ein anbetungswürdiges Mädchen gehalten; ich war ernüchtert, als ich erfuhr, dass die Beatles damit eine Straße meinten. Das Straßenschild haben Fans so oft abgeschraubt, bis die Stadtverwaltung den Namen einfach auf eine Mauer malen ließ.

      Dieselbe Stadtverwaltung will nun das Geburtshaus von Ringo Starr abreißen lassen, weil es baufällig ist. Das finde ich hingegen gar nicht gut. Geburtshäuser großer Künstler sollten erhalten bleiben, gern auch angegammelt, nirgendwo kapiert man so gut, dass sie klein anfingen. Wenn man das schäbige Ziegelhaus betrachtet, wird die Musik noch wahrer. Wenn es nun aber einen Welthit »Madryn Street Number 9« gäbe und Ringos Babyadresse ein Modell der Weltkunst wäre, eine Art Buddenbrookhaus? Gibt es nicht, kann es nicht geben. Für so ein Lied war und ist Ringo viel zu bescheiden. Bescheidener als Thomas Mann, Paul, John und George zusammen. Okay fände ich es daher, wenn man von den berühmten Zebrastreifen den von ihm betretenen zweiten von rechts liegen ließe.

      Mein Leben als Assistent

      Das Leben mit einem Forscher ist anstrengend. Mit einem, der gerade feststellt, dass die Gegend, die er entdeckt hat, nur das Ufer eines gewaltigen Kontinents ist. Ich bin ihm scheinbar voraus, ich kenne die Grenzen dieses Kontinents, ich kenne die Gegend, in der die Forschungen begannen, aus der Vogelperspektive, und alle anderen auch, die Berge und Täler und Flüsse und Schränke. Aber was weiß ich von der Flora dort unten, vom Teppichland, vom Reiz einer Fluse, ihrem Aroma? Und begriff ich je das Wunder einer Schublade? Man kann sie auf und zu machen, mache ich auch, aber doch ohne die Konstruktion zu bestaunen, immer neu zu überprüfen, wie das fest und beweglich zugleich ist ...

      Ich bin der Gehilfe dieses Forschers, ich war einer dieser Typen, die glauben, sie wüssten es besser, aber das wissende Lächeln hat er mir ausgetrieben, ich fange an zu staunen. Er ist eine jener Naturen, die von ihren Interessen so besessen sind, dass man mitunter das Weite suchen möchte, Luft holen, forsch doch alleine! Aber wer weiß, was als Nächstes entdeckt wird, das möchte man nicht verpassen. Außerdem braucht er, wie alle diese Besessenen, jemanden fürs Praktische. Einen, der fürs Essen sorgt, der die Lawinen voraussieht, die der Forscher mit seinen Untersuchungen auslösen kann. Mit bloßer Hand stoppe ich einen herabkrachenden Felsen, will sagen, eine Schublade voller Krimskrams.

      So gesehen bin ich mächtig. Ich hätte ja auch längst den Krimskrams aus der Schublade entfernen können. Kostet mich nur einen Handgriff. Aber zugleich einen mentalen Überblick, der des Forschers Interessen alle vorausweiß, und den habe ich nicht. Ich müsste den ganzen Kontinent in Ketten legen, der zu erkunden ist, mit Gießharz einbetonieren. Irgendwas ist aus der Schublade gefallen. Es kommt sofort ins Labor. Das Labor ist der Mund. Dort wird alles überprüft. Forscher! Wo ist die kleine Glühbirne? Mach den Mund auf! Ich muss manchmal rabiat werden. Er hält den Atem an.

      Oder kann er nicht atmen? Hat er die Birne im Hals? Ich halte ihn kopfüber. Er brüllt, er hat den Atem nur angehalten vor Wut über die Unterbrechung, die unnötige Panik. Es gibt so viel zu entdecken! Hinter den Hügeln der Schwellen die Küche. Was für Türen, was für glänzende Wunder dahinter! »Töpfe«, lallt der Gehilfe. Raus damit, überprüfen! Und wie soll ich im Basislager das Essen machen, wenn ihm jederzeit ein Topf auf den Kopf fallen kann? Zum ersten Mal greife ich zurück auf Methoden des 19. Jahrhunderts. Ich hole den Laufstall. Der Forscher wird eingekerkert. Schutzhaft.

      Es ist ihm recht, er übt Stehen an den Stäben. Demnächst wird er gehen, den ganzen Kontinent wird er erkunden, 145 Quadratmeter, die noch keiner kennt. Ich brauche die Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich brauche einen Koch, einen Bodyguard, ein Räumungsteam, Minensuchhunde, und ich brauche Schlaf. Viel Schlaf. Morgen um sechs wird er mich wieder hochscheuchen.

      Draußen vor der Tür

      Natürlich war es rappelvoll, wie immer, wenn ein Blockbuster startet, aber irgendwas war anders. Meine jüngste Mitbewohnerin hatte die Karten besorgt, für ihre Mutter, sich und mich, und ich war mit Proviant beladen: Bier, Limonade, Lakritze. Wir waren bereit für »Mamma mia«. Meryl Streep ist immer gut. Aber ich war nicht gut genug für Meryl Streep. »Den Herrn darf ich nicht reinlassen«, sagte die Kartenabreißerin streng, »heute ist Ladies first.« »Wie bitte?« »Die Vorstellung ist nur für Frauen. Steht doch auf der Karte. Ladies first.« »Und was ist mit dem Herrn dort?« sagte ich und wies auf den einzigen anderen Mann mitten im weiblichen Gewühle. »Bei dem können Sie Ihre Karte eintauschen.«

      Da war nichts zu machen. Sowas ist mir noch nie passiert. Und dabei glaubte ich seit Langem, gegen jegliche Türhüter magisch gefeit zu sein. Daran musste ich jetzt denken, während die beiden Damen ohne mich Meryl Streep sahen und ich durch den Regen (denn natürlich regnet es an solchen Abenden!) nach Hause trottete. 1989. Es war mein Bayreuthdebüt. Ich hatte eine Karte, das war nicht das Problem, und Damentage gibt es dort auch nicht. Eine Zeitung hatte es riskiert, mich, festspielmäßig total unerfahren, zum Grünen Hügel zu schicken. Zur Eröffnung gab es »Parsifal«.

      Nach dem ersten Aufzug traf ich draußen einen Bekannten und quatschte mich fest. Ich hörte irgendwelche Trompeten blasen, wir redeten weiter. Irgendwann sagte er: »Auch nur als Zaungast hier?« »Wieso?« »Weil du nicht reingegangen bist.« »Und du?« »Ich habe keine Karte gekriegt.« »Aber …« »Ich glaube, die machen grad zu.« Oh ja, das taten sie. Und sie ließen mich nicht rein, als ich gegen die Glastür hämmerte. »Das darf nicht wahr sein.« Ich raste um das ganze Festspielhaus auf der Suche nach einer Tür. Es war wie ein Schiff, das abgelegt hat. Alle Schotten dicht. »Das darf nicht wahr sein.« Mein Debüt! Meine Kritik! Hilfe! Da erreichte ich den Künstlereingang. Ich stand in Flammen.

      Ich erklärte dem Pförtner, die Klotür habe geklemmt und ich sei ein Kritiker aus Hannover. Er sah nur einen wahnsinnigen jungen Mann und rief eine Dame herbei. Ich konnte vor Aufregung kaum sprechen. »Klotür«, log ich stammelnd, »Kritiker«, keuchte ich die reine Wahrheit heraus; sie glaubte wohl eher das erste als das zweite, sah aber, dass es ein Leben zu retten galt. Aus Mitleid wissend. Sie führte mich durch Labyrinthe, während von fern das Orchester wogte wie ein Weltmeer, zum Raum ward hier die

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