Mann, Frau, Affe. Volker Hagedorn
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Berlinreisenden wird immer wieder die Buslinie 100 empfohlen, da sie allerlei Sehenswürdigkeiten berührt von Zoo bis Alex. Mit dem gewöhnlichen Berliner Leben hat diese Linie nichts zu tun. Das ereignet sich, was Busse angeht, zum Beispiel auf den Linien M 48 und M 85, die den Südwesten der Stadt mit dem Nordosten verbinden und sich die feinstaubhaltige Strecke vom Botanischen Garten bis zur Philharmonie teilen. Zwischen diesen beiden Haltestellen bin ich viel unterwegs. Es ist keineswegs eine schöne Strecke, und die meisten Passagiere haben völlig anderes im Sinn als Seerosen und Sinfonien.
Sie kämpfen um die Plätze. Die Busse, obschon Doppeldecker, sind tagsüber rappelvoll, mit Kindern und Erwachsenen, Babys und Senioren, Babykarren und Rollstühlen. In anderen Städten wird Behinderten und Eltern mit Kindern ein gewisser Respekt entgegengebracht, hier nicht, will auch keiner. Berlin ist im Grunde brutal. Mütter – meistens sind es ja doch noch die Mütter – rammen ihre Wagen in Kniekehlen und an Kniescheiben ebenso wie die Betreuer der Behinderten. Wagenburgen bilden sich in der Busmitte, um die herum sich grimmige alte Damen um Plätze balgen.
»Ich hab ’n kaputtes Bein«, ruft eine und will sich an einer anderen vorbeizwängen, die ihr entgegenschleudert: »Und ich ’n kaputten Rücken!«, während sie ihren Behindertenausweis zum Beweis hochhebt. Man könnte beklagen, dass es an Platz mangelt, aber viel mehr Busse als sowieso schon können eigentlich gar nicht eingesetzt werden. Beim Platzkampf entfalten die Leute eine Vitalität, in der es fast nebensächlich wird, auf wie vielen Beinen und in welchem Alter man unterwegs ist. Was den Stress noch steigert, sind die Lichtschranken an den Türen. Selbst erfahrene Passagiere können sich partout nicht merken, wo man nicht stehen darf.
»Bitte machense den Türbereich frei«, sagt der Fahrer, »sonst steh’n wa morgen noch hier.« Das ist höflich angesichts der Tatsache, dass er auf Höhe Bierpinsel schon fünf Minuten Verspätung hat in seinem 48er, während ihm der 85er im Heck klebt mit einem Kollegen, dem auch gleich das Lachen vergehen wird, weil ein Fahrgast die Kurzstrecke mit Kupfergeld bezahlen will, dass er noch nicht abgezählt hat. Es riecht nach Döner mit alles und vollen Babywindeln und, weil wegen der Lichtschranke immer noch die Tür offen ist, Abgasen.
Dem Fahrer reicht’s. Er würgt den Motor ab und lässt ihn neu an, so kann er die Lichtschranke austricksen und kriegt die Tür zu. Kavalierstart, kombiniert mit Elchtest. Wrooom! Zum Umfallen ist es eh zu eng. Nachts nicht. Dann taumeln hier die Betrunkenen, und einer ruft beim Aussteigen: »Viel Glück in der Ewigkeit, wa!« Aber Linie 100? Das ist nur sanfter Tourismus.
Poeten hinter Gittern
Neulich sprach uns im Botanischen Garten der Bundeshauptstadt ein Dichter an. Ein beleibter Mann in Sandalen, in der Hand ein Notizbuch. »Darf ich Ihnen was vorlesen?« rief er, »gerade fertig geworden.« »Ja.« Das Gedicht war relativ kurz und handelte von der Sonne, die sich nachts vom Tag erholt. Das Gedicht war schön. »Schön«, sagten wir und gingen weiter, und der Dichter lächelte mild. »Das ist typisch Berlin!« sagen die Leute, die derzeit in Scharen aus schönen Städten hierher ziehen, »dass da einfach so ein Dichter auf der Bank sitzt!«
Ich muss alle, die auch noch hierher ziehen wollen, warnen. Es sitzen eben nicht überall in Berlin solche Freaks herum. Es gibt für die unterschiedlichen Arten von Menschen hier streng abgemessene Gehege, und die milden Freaks, eben die lyrischen, gehen in den Botanischen Garten. Sie würden nie am Potsdamer Platz sitzen, der nur eine öde Schneise und ausschließlich Touristen vorbehalten ist, aber ebenso wenig auf dem Prenzlauer Berg, den, genau wie das Vorurteil behauptet, Schwaben und Art Directors unter sich und ihren dort in Rekordfrequenz zur Welt kommenden Kindern aufteilen.
Ich kenne keine Stadt, in der die Zünfte, Kasten, Schichten, Stadtteile so grotesk getrennt sind – vielleicht weil eine verbindende Mitte fehlt, geografisch wie geschichtlich. Die Busse bis Steglitz sind voll mit strapazierten Schlechtverdienern, die Busse nach Dahlem locker besetzt mit teuer gekleideten Kindern sorgloser Villenbesitzer, man wähnt sich in einer völlig anderen Stadt. Wir wohnen genau an der Kante. »In Steglitz?« sagte neulich eine Hochschulprofessorin und sah mich groß an. »Da kenne ich keinen!« Was soviel hieß wie: Da wohnt man doch nicht als zivilisierter Mensch. »Ich kenne da auch keinen, außer Kafka«, sagte ich stolz. Kafka ist allerdings vor 86 Jahren weggezogen. Kostümbildner, Medientypen, Akademiker wohnen in Mitte, Kreuzberg und Schöneberg, was nicht heißt, dass sie sich dort vermischen. Musikwissenschaftler laden keine Musiker ein, Germanisten haben mit Galeristen nichts zu tun. Es gibt Imbissbuden, die man meiden sollte, wenn man nicht in türkisch-kurdische Grenzkonflikte geraten will. Wer sein Gehege gefunden hat, hält Berlin für eine offene Stadt, wie auch jene, die auf der Suche nach sich selbst sind und die Revierrituale noch für Vibrations halten.
Es hat seinen tiefen Sinn, dass der cliquenfernste Ort Berlins vom längsten Gitter der Stadt umgeben ist, eben der Botanische Garten. Für die Leute aus den Kreativvierteln ist er zu weit weg, für die Hells Angels zu schlecht asphaltiert, Grillen darf man auch nicht. Hier haben Dichter und Kolumnisten ihre Ruhe. Ich bin da täglich – Jahreskarte! – und blicke mit Befremden auf Besucher, die hier nicht so hinpassen. Als Insider erkennt man die einfach.
Literarische Früherziehung
Literarische Früherziehung beginnt mit dem ungehinderten Griff zum guten Buch, dachte ich. Natürlich will ich auf keinen Fall zu den Eltern zählen, die vor lauter Ehrgeiz ihre Babys in die Neurose treiben und Dreijährige Chinesisch lernen lassen. Aber wenn das Kerlchen mit acht Monaten zur Philosophie greift, kann ich diese wichtige Begegnung doch nicht durch Verbote traumatisch besetzen! Zugegeben, ich hätte ihn ja nicht direkt neben das Bücherregal setzen müssen. Aber er hätte sich auch gelangweilt abwenden können. Stattdessen wälzte er sich näher und langte ins Regal. Nietzsche war nicht in den Griff zu kriegen: Die Bände stehen fugenlos in einem Schuber.
Vielleicht den pummeligen Sloterdijk, der sich daneben gutgreifig aus dem Regal wölbte? Nein. Er schob seine kleine Hand zwischen zwei Bücher und zog ein Reclamheft heraus, dann wälzte er sich auf den Rücken und hielt das Heft mit allen zwanzig Fingern und dem Titel nach oben. »Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs« von René Descartes, 1637 erschienen. Habe ich nie gelesen, dafür sah ich jetzt zu, wie intensive Lektüre aussehen kann. Er schwenkte das Bändchen hin und her, drehte und wendete es, zog an allen vier Ecken und juchzte. Der Sloterdijk wäre dafür zu schwer gewesen.
Das Kerlchen hatte Descartes gewählt, weil der fast nichts wog, und natürlich, gestand ich mir ein, hätte er auch ein leichtgewichtiges Trivialromänchen genommen, wenn es auf Griffhöhe stünde. Der Kleine lachte sich über den »Vernunftgebrauch« kaputt, er kreischte vor Vergnügen. Heitere Wissenschaft! Dann wurde es ernst. Wie alles, was ihn wirklich interessiert, führte er das Heft zum Mund. Wenn ich jetzt nicht eingriff, würde er den 43 Jahre alten Reclamband ankauen und nach und nach zerfetzen, so, wie er es schon mit der Zeitung geübt hat.
»Sorry. Ihre Lesezeit ist leider abgelaufen«, sagte ich und wand ihm das Heft aus den Händen. Unphilosophisches Kreischen erfüllte den Lesesaal. Beim nächsten Mal war er schneller als ich und hielt sich ans Regal daneben, Romanautoren mit »Sch«. Der Schutzumschlag von »Der stille Don« war genauso schnell zerfetzt, wie der alten Taschenbuchausgabe von »Casanovas Heimkehr« die Frontpappe fehlte. »Nein! Nein! Nicht auch noch die ›Gelehrtenrepublik‹! Komm, ich les dir daraus vor. ›Auf Kankerstelzen aus Licht der kleingeschnürte Sonnenleib‹ …« Er schrie. Arno Schmidt ist noch nichts für ihn.
Dafür lässt er sich von seiner Mutter mit bemerkenswerter Geduld »Clara und Paul« vorlesen, wobei sie ihm untersagt, an dem Buch zu nagen. Wir sind da unterschiedlicher Meinung. »An einem Bilderbuch mit dicken Pappseiten kann er doch mal nagen«, sage ich. »Dann macht er das bei deinen