Rassismus und kulturelle Identität. Stuart Hall
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Was hat es mit dem zweiten, beunruhigenden Term in unserer Identitäts-Gleichung, der europäischen Präsenz auf sich? Für viele von uns besteht hier das Problem nicht in einem Zuwenig, sondern in einem Zuviel. Während Afrika ein Fall des Ungesagten war, leiden wir im Falle Europas darunter, dass es ununterbrochen spricht und uns spricht. Die europäische Präsenz unterbricht die Unschuld des ganzen Diskurses über ›Differenz‹ in der Karibik, indem sie die Frage der Macht einführt. ›Europa‹ ist unwiderruflich mit dem ›Spiel‹ der Macht, mit den Linien von Gewalt und Zustimmung und mit der Rolle des Herrschenden in der karibischen Kultur verknüpft. Es ist die europäische Präsenz in Form von Kolonialismus, Unterentwicklung, Armut und Rassismus gegen Farbige, die innerhalb ihrer dominanten Repräsentationsregimes das schwarze Subjekt positioniert hat: im kolonialen Diskurs, dem der Abenteuer- und Entdeckungsliteratur, dem über die Romantik des Exotischen, im Auge des Ethnografen und Reisenden, in den Topoi des Tropischen im Tourismus, den Reiseführern und in Hollywood und in den gewalttätigen und pornografischen Sprachen des Ganja und der städtischen Gewalt.
Da es bei der Présence Européenne um Ausgrenzung, Zwang und Enteignung geht, erliegen wir oftmals der Versuchung, diese Macht als vollkommen außerhalb von uns zu sehen, als eine äußerliche Kraft, deren Einfluss wir – ähnlich wie die Schlange ihre Haut – einfach abstreifen könnten. Woran uns Frantz Fanon in seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken erinnert, ist die Tatsache, dass und wie diese Macht zu einem konstitutiven Element unserer eigenen Identitäten geworden ist.
»… und der Andere fixiert mich durch Gesten, Verhaltensweisen, Blicke, so wie man ein Präparat mit Farbstoff fixiert. Ich wurde zornig, verlangte eine Erklärung. Nichts half. Ich explodierte. Hier die Bruchstücke, die von einem anderen Ich wieder zusammengesetzt wurden.« (Fanon 1952, 113; dt. 1980, 71, eig. Übers.)4
Dieser ›Blick‹ von dem Ort des Anderen aus fixiert uns nicht nur durch seine Gewalt, Feindseligkeit und Aggressivität, sondern auch durch die Ambivalenz seines Begehrens. Dies konfrontiert uns nicht einfach direkt mit der herrschenden europäischen Gegenwart als einem Ort oder ›Schauplatz‹ der Integration, an dem all diejenigen Gegenwarten, die sie aktiv zerstört hatte, neu zusammengefügt und in einem Rahmen gefasst werden. Als Schauplatz einer tiefgreifenden Spaltung und Verdopplung, die Homi Bhabha »die ambivalenten Identifikationen der rassistischen Welt« genannt hat, »das ›Anderssein‹ des Selbst, ist sie in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben« (Bhabha 1986).
Der Dialog von Macht und Widerstand, von Verweigerung und Anerkennung mit und gegen die Présence Européenne ist fast ähnlich komplex wie der ›Dialog‹ mit Afrika. Im alltäglichen kulturellen Leben lässt er sich in seiner reinen und unberührten Form nirgendwo wiederfinden. Er ist zu jeder Zeit und immer schon mit anderen kulturellen Elementen synkretistisch verschmolzen, kreolisiert – nicht verloren jenseits der Mittleren Passage, sondern immer schon präsent: von den Harmonien unserer Musik bis zum basso continuo Afrikas durchquert und durchkreuzt er unser Leben an jedem Punkt. Wie können wir diesen Dialog so inszenieren, dass wir endlich diejenigen sind, die ihm, ohne Terror und Gewalt, seinen Platz zuweisen, anstatt für immer und ewig durch ihn unseren Platz zugewiesen zu bekommen? Werden wir jemals in der Lage sein, seinen unumkehrbaren Einfluss anzuerkennen und gleichzeitig seinem imperialisierenden Blick zu widerstehen? Bisher konnte dieses Rätsel noch nicht gelöst werden, höchst komplexe kulturelle Strategien sind dafür erforderlich. Denken wir zum Beispiel nur an den Dialog eines jeden karibischen Filmemachers und Autors, den er auf die eine oder andere Weise mit dem dominanten Film und der dominanten Literatur des Westens führen muss. Denken wir an das komplexe Verhältnis junger schwarzer britischer Filmemacher/innen zur ›Avantgarde‹ des europäischen und amerikanischen Kinos. Wer würde diesen angespannten und qualvollen Dialog als ›eindimensional‹ beschreiben?
In der Gegenwart der dritten Präsenz, der ›Neuen Welt‹, geht es weniger um Macht als um den Boden, den Ort und das Territorium. Die ›Neue Welt‹ ist der Treffpunkt, an dem die vielfältigen kulturellen Nebenflüsse zusammenlaufen, sie ist das ›leere‹ Land (das die europäischen Kolonisatoren entleert haben), in welchem Fremde aus allen Teilen der Welt zusammenstießen. Niemand von den heutigen Bewohner/innen der Inseln – den schwarzen, braunen, weißen, afrikanischen, europäischen, amerikanischen, spanischen, französischen, ostindischen, chinesischen, portugiesischen, jüdischen und niederländischen – ›gehörte‹ ursprünglich dorthin. Die Neue Welt ist der Ort, an dem die Kreolisierungen, Assimilationen und Synkretismen ausgehandelt wurden. Die Neue Welt ist der dritte Term, die erste Szene, auf der die verhängnisvolle und tödliche Begegnung zwischen Afrika und dem Westen inszeniert wurde. Sie muss auch als Ort vielfältiger und kontinuierlicher Vertreibungen verstanden werden: die der prä-kolumbianischen Ureinwohner/innen, der Arawaks, der Kariben und Indianer – die ständig aus ihrer Heimat vertrieben und dezimiert wurden –, die zahlreicher Völker aus Afrika, Asien und Europa; die ständigen Vertreibungen durch Sklaverei, Kolonisation und Eroberung. Die Neue Welt steht für die endlosen Wege, auf denen die karibischen Völker zur Migration bestimmt wurden. Sie ist zum Signifikanten für die Migration selbst geworden, für das Reisen, Unterwegssein und für die Rückkehr als gemeinsame Erfahrung und Bestimmung, für den Antillaner als den Prototypen des Nomadentums der modernen oder postmodernen Neuen Welt, der sich ständig zwischen dem Zentrum und der Peripherie hin- und herbewegt. Die Beschäftigung mit Bewegung und Migration ist dem karibischen Film und anderen ›Dritte-Welt-Filmen‹ gemeinsam. Aber es ist für uns eines der bestimmenden Themen, das sich in allen – den Drehbüchern und filmischen Bildern zugrunde liegenden – Erzählungen wiederfinden lässt.
Die Présence Américaine ist weiterhin durch Erfahrungen des Schweigens und der Unterdrückung gekennzeichnet. In seinem Aufsatz Inseln des Zaubers (1987) erinnert uns Peter Hulme daran, dass wir es bei dem Wort ›Jamaika‹ mit der spanischen Version des Namens der eingeborenen Arawaks – ›das Land der Wälder und des Wassers‹ – zu tun haben, der durch Kolumbus’ Umbenennung in ›Santiago‹ nie ersetzt worden ist. Die Präsenz der Arawaks ist heute die von Geistern, die auf den Inseln hauptsächlich in Museen und archäologischen Stätten als Teil der kaum wahrgenommenen und nutzbar gemachten ›Vergangenheit‹ sichtbar ist. Hulme bemerkt, dass sie zum Beispiel im Emblem des Jamaican National Heritage Trust nicht auftaucht. Stattdessen wurde die Figur von Diego Pimienta gewählt, die Figur ›eines Afrikaners, der 1655 auf der Seite seiner spanischen Herren gegen die englische Invasion der Inseln gekämpft hat‹ – eine verzerrte, metonymische, schwache und demütigende Repräsentation der jamaikanischen Identität, sollte es diese jemals gegeben haben! Hulme erzählt, wie Premierminister Edward Seaga einst versuchte, das Wappen Jamaikas zu ändern. Das Wappen zeigt zwei Arawaks, die ein Schild mit fünf Ananas, gekrönt von einem Krokodil, halten. Premierminister Seaga fragte rhetorisch:
»Können die Arawaks, die unterdrückt und vernichtet wurden, das unerschrockene Wesen der Jamaikaner repräsentieren? Symbolisiert das langsam kriechende, vom Aussterben bedrohte Krokodil, ein kaltblütiges Reptil, etwa die Wärme und den schwungvollen Optimismus unserer Menschen?« (Zit. bei Hulme 1987, 84)
Es gibt wenige politische Äußerungen, die in dieser Deutlichkeit etwas über die Komplexitäten aussagen, die mit dem Prozess und dem Versuch, ein Volk aus so unterschiedlichen Menschen mit einer so unterschiedlichen Geschichte durch eine einzige, hegemoniale ›Identität‹ zu repräsentieren, verknüpft sind. Der Vorschlag von Herrn Seaga an die jamaikanischen Menschen, die zum größten Teil afrikanischer Abstammung sind, ihre ›Erinnerung‹ damit zu beginnen, einen Teil ihrer Geschichte zu ›vergessen‹, bekam glücklicherweise die Ablehnung, die er verdiente.
Die Gegenwart der ›Neuen Welt‹ – Amerika, Terra Incognita – ist daher selbst der Beginn der Diaspora, der Verschiedenheit, der Vermischung und der Differenz. Afrokaribische Menschen sind immer