Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo
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Читать онлайн книгу Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo страница 15
Henrik griff nach Simons Hand. Er schwankte wie ein großer, unförmiger Stamm, den jemand vergeblich aufzurichten versucht hatte. Dann sank er über Simons Schulter in sich zusammen.
»Keiner hat mit mir geredet. Kein Mann hat bisher mit mir geredet. Weißte das, du Blödmann? Weißte, was es heißt, nie mit dabei zu sein? Nie den Respekt zu bekommen, den man zum Leben braucht?«
Simon wurde es übel, aber er schluckte die Übelkeit herunter. Er hörte sich alle Vorwürfe gegen jedermann an. Hörte sich an, was für eine leichtfertige Frau Ingrid war, was für ein anspruchsvolles Mädchen Tora. Was für eine Kindheit Henrik gehabt hatte. Wie alle versagt hatten. Der Krieg. Die Torpedierung. Das Gefängnis.
Simon fühlte sich allmählich besser. Aber die Leere war schlimmer. Dieser Mann war blind gegenüber sich selbst. Er hatte sich nie selbst scharf angesehen.
»Ist dir nie aufgegangen, dass du vieles von dem Missgeschick, das dir widerfahren ist, selbst verschuldet hast?«, fragte Simon schließlich. Henrik stand da mit gesenktem Kopf. Der rechte Kiefer kippte gleichsam unsicher nach unten. Ein armer Hund. Das war er.
Simon wusste nicht, was er von diesem Besuch erwartet hatte. Sein Gewissen zu erleichtern? Und jetzt stand er bis zu den Knien in Henriks verspieltem Leben. Die Stimme des Mannes schwamm wie altes Laub im Hochwasser. Runter in den Graben damit. Als Simon ging, wusste er nicht, ob er mit einem Feind Frieden geschlossen oder ob die Feindschaft sich noch verstärkt hatte. Aber er wusste zwei Dinge, als Ingrid zurückkam. Niemand ging bei Frau Karlsen in Breiland ans Telefon – und: Er hatte sein eigenes Gewissen wegen des Geschehens in der Tobiashütte so erleichtert, dass er Rakel davon erzählen konnte.
Er hoffte nur, dass Henrik nicht alles an Ingrid ausließ, wenn sie allein waren. Der Bursche schaute schon wütend drein, als sie nur die Treppe heraufkam. Simon verstand die Menschen nicht. Natürlich hatte er auch manchmal Wut auf Rakel. Aber er konnte seine Wut nicht an ihr auslassen. Wenn er sie ansah, wurde er ganz weich. Wie ihr Strickgarn. Die Wolle, die sie von den Schafen schoren. Wenn Rakel ihn umarmte, spürte er erst richtig, dass sie ihm immer gefehlt hatte. Sie machte ihn stark. Gab den Tagen, zu denen er aufstand, Farbe. Sie!
Vielleicht, weil er immer so sicher gewesen war, dass er der Mann war, den sie haben wollte.
Es wehte ein scharfer Wind von der Bucht. Der Frühling setzte sich fest. Simon stand auf dem Hügel und sah über die Landschaft. Das tat er oft. Hatte das Fahrrad zum zweiten Mal an diesem Abend hinaufgeschoben. Draußen leuchtete der Horizont. Die Inseln lagen in einer Art schimmernder Dämmerung. Simon gehörte nicht zu den Menschen, die Visionen und ein außergewöhnliches seelisches Erlebnis hatten, wenn sie eine so schöne Natur sahen. Er lebte in ihr und mit ihr. Aber manchmal machte er seine großen blauen Augen weiter auf als sonst – und sah. Das weckte einen gewissen Widerhall in ihm, bei dem er sich sehr wohlfühlte. Genauso wie nach einer guten Mahlzeit mit Rakel, die ihm bei Tisch gegenübersaß. Aber er grübelte es nicht weg. Ließ nicht zu, dass es Besitz von ihm ergriff.
Jetzt stand er da oben und schaute auf seinen neuen Betrieb. Er hob sich in der Dämmerung ab. Mit dem weißen Anstrich stach er aus all dem Grauen und Blauen hervor. Schob sich von selbst in jedermanns Blickfeld.
Simon besaß. Er verwaltete. Er war nicht besonders hochmütig. Er hatte im Tausendheim für klare Verhältnisse gesorgt, auch wenn Rakel nicht da war. Er stand in der Dämmerung und war froh. Das war alles.
Trotzdem brannte eine gewisse Unruhe in ihm. Warum kam sie nicht nach Hause? War Tora wirklich krank? Oder wollte sie von der Insel fort – von ihm? War es zu eng für sie in Simons Reich? Hatte er während seines ganzen Erwachsenenlebens auf die Katastrophe gewartet, die ihn in den Abgrund stürzen würde? Weil Simon, der uneheliche Junge aus Bø, von einem Leben wusste, in dem man sich immer überflüssig fühlte und allen Leuten im Weg war. In dem man immer zu viel aß, zu viel herumlungerte. So war es bei den Pflegeeltern gewesen. Bis er als junger Kerl auf die Insel gekommen war, weil der Onkel kräftige Fäuste für die Arbeit brauchte.
Und dann war der Onkel ebenso passend und zuverlässig gestorben, wie im Herbst die Johannisbeeren gepflückt werden. Und Simon wurde über Nacht König. Er hatte um einen Onkel, den er kaum gekannt hatte, nicht getrauert. Hatte nur ein paar von den schlechtesten Möbeln in die Scheune befördert und war die Buchführung durchgegangen. Er verstand nicht allzu viel davon und fuhr damit zum Steuerberater nach Breiland, der ihm sagen konnte, dass Geschäft und Gebäude und Boot sozusagen schuldenfrei waren. Ebenso Wohnhaus und Hof. Dreitausend Kronen sollten an die Mission gehen, aber alles andere – Grundstücke und Bankkonto – gehörte ihm. Simon war zwanzig Jahre alt. Er vergaß nie, wie leicht es gewesen war. Und er hatte eine tief verwurzelte Angst, dass er ebenso leicht alles wieder verlieren könnte. Der Brand war eine Warnung gewesen.
An dem Tag, nachdem der Onkel unter die Erde gekommen war, hatte er sich Felder und Wiesen und das ganze Umland, Wohnhaus und Ställe angesehen. Mit den Händen in den Hosentaschen. Als ob er Angst hätte, es könnte etwas vor seinen Augen verschwinden, wenn er es anfasste. Nach ein paar Tagen ging er in den Fischereibetrieb, machte heimlich Skizzen und plante Verbesserungen und Modernisierungen.
Ein Wunder löste das andere ab. Rakel war das größte. Sie zog mit ihren drei Schafen zu ihm herauf und blieb. Anfangs ging sie noch jeden Abend von Bekkejordet in das kleine Fischerhaus zu ihren Eltern, weil der Vater es so wollte. Aber ihre roten kräftigen Haare waren überall zu finden. Im Schafstall, in der Ofenecke, in der Speisekammer und im Dachgeschoss. Sogar in Simons Bett. Und ihr Geruch blieb zurück wie der Geruch von getrockneten Blumen, die im Herbst in dem kleinen Nebenraum hingen. Sie waren so jung. Es fehlte ihnen nichts. Zunächst.
Simon und Rakel hatten ihre Hochzeit selbst ganz groß ausgerichtet. Ohne jemanden um Rat zu fragen. Und die Braut war nicht schwanger.
Der Schafstall war in jedem Frühling voller Lämmer. Ebenso sicher, wie das Licht über den Inseln in die Bucht kam. Aber Rakels Leib blieb flach. Der Segen wolle sich in diesem Haus nicht einstellen, hieß es. Jedoch Simon wusste. Auch wenn Rakel nach Breiland fuhr und zurückkam und ihm erzählte, dass sie keine Kinder bekommen könne, Simon wusste. Manchmal weinte es in ihm deswegen. Aber er konnte es nicht ertragen, dass Rakel weinte. Deshalb wagte er nicht, es ihr zu zeigen.
Er war unfruchtbar, nicht Rakel. Er wusste es seit der Zeit, als er ein armer Kerl gewesen war, der sich seine Freude holte, wo er sie bekommen konnte, ohne dass ihn das Gewissen sonderlich plagte, wie wohl das Schicksal des Mädchens aussehen werde. Aber es kam nie ein Kind. Darüber hatte er sich ab und zu gewundert.
Sie waren einander Kinder, Geliebte, Gesinde und Träume. Sie spielten wie Tierkinder, drinnen und draußen. Bis die Freude herausbrach wie heißblütige junge Pferde. Gelegentlich ließen sie Zorn und Angst aneinander aus, um sich im nächsten Augenblick zu gegenseitigem Trost aneinanderzuschmiegen. In Haus und Hof wuchs und gedieh alles.
Simon stand auf dem Hügel und sah nach Været hinunter und über den Fjord. Und er vermisste Rakel so sehr, dass sein Blick getrübt war und die großen, starken Hände unruhig und schutzlos auf dem Fahrradlenker lagen.
8
Rakel wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren.
Jetzt lagen Tora und sie jedenfalls in dem großen Hotelbett. Die Dunkelheit hatte sich wie eine nasse Plane über sie ausgebreitet. Toras Geschichte hatte sie beide so eng miteinander verbunden, dass sie wohl nie mehr voneinander loskommen würden. Es war eine Geschichte, wie Rakel sie noch nie gehört hatte. Nicht in den Fischerhäusern, nicht auf der Straße, und auch in ihrer wildesten Phantasie hätte sie sich so etwas nicht vorstellen können. Sie würde sie bestimmt niemandem erzählen. Die Geschichte war jetzt zu ihrer Last