Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute. Herbert Meißner
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Lenins Bemühen um eine deutliche Verbesserung der Arbeitsweisen des Staatsapparates, um eine Einschränkung der Herrschaft der Parteibürokratie und um eine Beschneidung der »gewaltigen Macht« in den Händen des Generalsekretärs wurde schon während Lenins Krankheit von einer beachtlichen Zahl von Parteifunktionären unterstützt und nach Lenins Tod fortgesetzt. Ihr Wortführer war Leo Trotzki. In einem Brief an das ZK der KPR vom 8. Oktober 1923 wandte sich Trotzki scharf gegen die installierte Herrschaft der Apparate in Partei und Regierung, gegen die Missachtung der Demokratie und gegen die »praktizierte falsche Politik«. Diese Kritik stützte sich auch auf die Kenntnis der wachsenden Unzufriedenheit mit der Wirtschaftslage und der innerparteilichen Entwicklung in der Bevölkerung und in der Parteimitgliedschaft. Dies fand seinen Ausdruck in der am 15. Oktober 1923 dem Politbüro übergebenen »Erklärung der Sechsundvierzig«, in der 46 führende alte Bolschewiki wie Preobraschenski, Serebrjakow, Smirnow, Pjatakow und andere die Wirtschaftspolitik und noch mehr das Parteiregime scharf kritisierten. Das war der Beginn der Formierung einer Linken Opposition, die sich später zu einer Internationalen Linken Opposition (ILO) entwickelte.
Inzwischen war ein weiterer Vorgang geschehen. In der Prawda vom 24. März 1923 wurde von Kamenjew erstmals der Begriff Leninismus gebraucht, verbunden mit dem Vorschlag, unter diesem Begriff Lenins Gedankengebäude in der Art eines Katechismus populärer Art zusammenzufassen. [46] Pierre Broué schreibt mit vollem Recht, solch eine Sache »wäre mit einem Lenin im vollen Besitz seiner Kräfte undenkbar gewesen. Bald sollte man sehen, dass dieser Begriff im Mund der Führungskräfte nur als Gegensatz zum ›Trotzkismus‹ – einem Fremdkörper in der bolschewistischen Partei – Sinn machte.« [47]
Und in der Tat: nachdem es bei der Behandlung der Erklärung der 46 im Politbüro einiges Hin und Her gab, eröffnete Stalin in der Prawda vom 15. Dezember 1923 die Kampagne gegen Trotzki. Auf der 13. Parteikonferenz vom 16. bis 18. Januar 1924 werden die Auffassungen der Opposition als kleinbürgerliche verurteilt und im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen hieß der Generalnenner: Leninismus oder Trotzkismus. In einer Rede Kamenjews, die in der Prawda vom 26. November 1924 unter eben diesem Titel veröffentlicht wurde, wird der »Leninismus als Lehre von der proletarischen Revolution« gekennzeichnet, demgegenüber »spielte der Trotzkismus keine andere Rolle als die einer Agentur des Menschewismus, einer Verschleierung des Menschewismus, einer Maskierung des Menschewismus.«
In der Prawda vom 30. November 1924 folgte Sinowjews Artikel »Bolschewismus oder Trotzkismus«. In der Leningradskaja Prawda schrieb G. I. Safarow über »Trotzkismus und Leninismus«. Alle diese und andere Schriften dieser Art wurden in einem Sammelband mit dem Titel »Sa Leninism« (Für den Leninismus) zusammengefasst, der im Januar 1925 mit einem Vorwort des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare A. J. Rykow erschien. [48]
Auf dem V. Kongress der Kommunistischen Internationale wird die Kampagne gegen Trotzki in die kommunistische Weltbewegung getragen. Otto W. Kuusinen (Finnland) attackierte Trotzki unter der Überschrift »Eine verlogene Darstellung des deutschen Oktober«. Bela Kun (Ungarn) kam wieder auf das Hauptthema: »Der Trotzkismus und der revolutionäre Marxismus«. Auch Brandler und Thalheimer (Deutschland) stimmten in diesen Chor ein. [49]
Und Trotzki? Völlig unerwartet für alle Oppositionellen: Trotzki schwieg! Selbst für Situationen mit relativ günstigen Bedingungen dafür, die Partei gegen Stalins Machtfülle und Machtmissbrauch zu mobilisieren, wie bei der Handhabung von Lenins Testament, stellt P. Broué fest: »Trotzki, für den die Veröffentlichung des Textes ein hervorragender Trumpf hätte sein können, schwieg.« [50]
Als das Zentralkomitee und die Zentrale Kontrollkommission gemeinsam über die »Erklärung der 46« berieten und die Stimmung gegen Bürokratie und Apparateherrschaft im Anschwellen war, arbeitete er gemeinsam mit Stalin und Kamenjew eine Resolution aus mit dem Ziel, die Partei zu beruhigen und ihr mehr Demokratie zu versprechen. Dies gelang und eröffnete den Apparatschiks die Möglichkeit, die in der Resolution genannten Prinzipien zu unterlaufen und ihre Herrschaft wieder zu stabilisieren.
Am 15. September 1924 vollendete Trotzki seine Schrift »Die Lehren des Oktober« für die anschließende Veröffentlichung. [51] Diese Schrift wurde nun zum zentralen Gegenstand des oben angeführten Hauptangriffs. In die Parteigeschichte ging dies alles ein unter dem Begriff der literarischen Debatte. In einem späteren Gespräch mit Sinowjew fragte Trotzki, ob die Debatte gegen den Trotzkismus auch stattgefunden hätte, wenn »Die Lehren des Oktober« nicht erschienen wären, antwortete Sinowjew: »Sicherlich hätte sie stattgefunden, denn der Plan, mit dieser Debatte zu beginnen, war schon vorher angenommen worden, und sie warteten nur noch auf einen Vorwand.« [52]
Auch für diese antitrotzkistische Kampagne gilt die Feststellung von P. Broué: »Tatsächlich hat Trotzki auf diese Flut von Kritiken und Attacken sowie auf die aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate und verleumderischen Interpretationen nicht geantwortet.« [53]
Die einschlägige Literatur ist voller Erklärungsversuche für Trotzkis Verhalten. Sie gehen von der Psychologie über gesundheitliche Aspekte, taktische Überlegungen, politische Fehleinschätzungen bis zu Charakterfragen. Es kann hier nicht Aufgabe sein, diesen Erklärungsversuchen einen weiteren hinzuzufügen. Es soll jedoch auf einen Aspekt hingewiesen werden, den Trotzki selbst formulierte und der in der Literatur kaum Beachtung fand. In einem Memorandum mit dem Titel »Der Gegenstand dieser Erklärung: unsere Divergenzen« vom 30. November 1924, welches sich an Kamenjew richtet, heißt es gleich zu Beginn: »Wenn ich dächte, meine Erklärungen könnten Öl ins Feuer der Diskussion gießen oder wenn die Genossen von denen der Druck dieses Essays abhängt, mir es frank und frei sagen, werde ich ihn nicht veröffentlichen, so belastend es für mich auch ist, der Liquidierung des Leninismus beschuldigt zu sein.« [54] Offensichtlich spielt hier ein Aspekt eine wesentliche Rolle, der von vielen Literaten übersehen wird und den man vielleicht nur voll bewerten kann, wenn man selbst fest in der Partei verwurzelt ist: Parteidisziplin! Dies aber nicht in dem diktatorischen Sinn, in dem dieser Begriff später in den kommunistischen Parteien missbraucht wurde, sondern aus ehrlicher Sorge um die innere Einheit und Stabilität der Partei.
Dieses Verständnis von Parteidisziplin führte dazu, dass Trotzki bis zu seiner Ausweisung 1929 in diesen Machtkämpfen eine ausgeprägt defensive Position bezog. Dies trat besonders deutlich in Erscheinung, als 1925 das Buch von Max Eastman »Since Lenin Died« erschien und darin über das Testament Lenins und über den Umgang damit berichtet wurde. Um den damit ausgelösten Skandal zu unterdrücken, verpflichtete das Politbüro Trotzki als vermutlich glaubwürdigsten Zeugen, die Darstellung Eastmans zurückzuweisen. Dafür wurde ihm folgender Text diktiert: »… Alle Redereien über ein verheimlichtes oder verletztes Testament sind bösartige Erfindungen und sind ganz und gar gegen den faktischen Willen Wladimir Iljitschs sowie gegen die Interessen der von ihm geschaffenen Partei gerichtet.« Und Trotzki unterschrieb wider besseres Wissen! Das war eine eindeutige Kapitulationserklärung.
In der Literatur findet sich mehrfach die Auffassung, Trotzki habe den Kampf um die Macht gegen Stalin verloren. Das ist in sofern eine irreführende Formulierung, als Trotzki diesen Kampf nie ernsthaft geführt hat. Das zeigte sich nicht erst 1925 bei der völlig unverständlichen Erklärung gegen Max Eastman. 1923 wurde vorgeschlagen, dass infolge Abwesenheit Lenins der politische Bericht des ZK auf dem XII. Parteikongress von Trotzki erstattet werden solle, was seine Position in der Gesamtpartei gefestigt hätte. Er lehnte dies ab und schlug selbst Stalin als Berichterstatter vor.
Beim Bekanntwerden von Lenins Testament stimmte Trotzki der Entscheidung zu, diesen Brief Lenins an den Parteitag nicht zu veröffentlichen.
Bei der Erklärung der 46 Oppositionellen, die Trotzki nicht unterschrieben hat, setzte er sich mit Stalin und Kamenjew an einen Tisch und arbeitete eine dagegen gerichtete Resolution aus, anstatt sich an die Spitze der Opposition zu stellen. Auch in der literarischen Debatte hielt er sich zurück – siehe sein Statement an Kamenjew. Diese selbstzerstörerische