Verdorbene Jugend. Horst Riemenschneider
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Es galt, meine Zeit im Jagdschießstand anzutreten. Es kam etwas plötzlich, aber jeder von uns wartete darauf, endlich einmal mit einer Jagdwaffe schießen zu dürfen. Nach Feierabend gingen wir schon ab und zu in eine Jugendgruppe, die auf einem Schießstand nahe dem Bahnhof Heinrichs mit Kleinkaliber-Gewehren übte. Aber das bemerkte man ja kaum. Mit einer Doppelflinte müsste das schon etwas ganz anderes sein.
Meister Gerbig holte mich ab und übergab mich in der Nachbarwerkstatt dem Kollegen Hartmann. Der sagte nicht viel, sondern ließ mich sechs Gewehre aufnehmen, je links und rechts drei, am Riemen über die Schulter gehängt. Man konnte damit gerade noch gehen. Hartmann hatte auch drei Gewehre sowie eine Aktentasche bei sich, in der er die Munition mitführte. Nun durchwanderten wir den ganzen Betrieb bis ans untere Tor. Dahinter ging es bis fast an die Straße nach Albrechts. Am Tor gab es eine Brücke über die Aue und die Hasel. Der Bach kam um den Betriebssportplatz herum und verlief auf der linken Seite des Tales, in dem der Betrieb sich erstreckte. Hinter dem Tor auf der rechten Seite etwas abseits waren einige Fabrikgebäude. Der Komplex hieß Porzellanfabrik.
Der Schießstand, dem wir zustrebten, lag vor der Porzellanfabrik, dicht an der Straße nach Albrechts. Die Räume konnte man von zwei Seiten aus begehen. Wir kamen von der Betriebs- oder der Porzellanfabrik-Seite aus herein. Es ging erst einmal in den sogenannten Doppelraum, wo im angedeuteten zweiten Zimmer Schießscharten zu sehen waren. Dort an der Seite waren auch Gewehrständer, in denen wir die Gewehre abstellten.
Hartmann nahm sich einen Stuhl, setzte ihn an die Tür am Eingang und nahm darauf Platz. Während ich noch verwundert in der Tür stand, holte Hartmann eine große Tabakspfeife und einen Beutel Tabak hervor und stopfte sich eine Pfeife. Dann qualmte er erst einmal genüsslich. Dabei knurrte er und brummelte etwas, was ich nicht verstand. Ich fragte, ob ich etwas falsch gemacht hätte. Er sagte aber, dass seine Bemerkungen nichts mit mir zu tun hätten. Es ginge um den blöden SA-Mann. Ich wusste nicht, wen er meinte. Nach und nach kam ich dahinter, dass Hartmann, der Einschießer, den Meister Gerbig meinte. Als Hartmann seine Pfeife zu Ende geraucht hatte, hupte es gerade für die erste Mittagsschicht. Wir schlossen den Schießstand ab und marschierten zurück in den Betrieb, um uns einen Platz im Lehrlingsspeisesaal zu suchen. Musste ich hier doch wieder unter die Fuchtel von Meister Dietz – aber nur während des Essens.
Als wir vom Mittagessen zurück waren, rauchte Hartmann wieder erst eine Pfeife und schimpfte auf dies und das. Nach und nach kam ich dahinter, dass er den Staat oder den Betrieb meinte. Es gab viel, über das er meckern konnte. Da ich ja nun nicht so richtig unter die Leute kam und zudem fremd war, verstand ich damals manches nicht. Als Hartmann endlich sagte, dass es los gehe, stieg meine Spannung und ich freute mich darauf, dass ich zusehen könnte, wie er die Gewehre einschießt.
Ich hatte mich aber getäuscht. Ich musste eine Scharnierklappe für einen Fischkasten herstellen, wofür er das Material mitgebracht hatte. Ich kam dabei nicht so recht voran, hatte ich doch keine Ahnung, wie man schnell ein Blech trennt, wenn man keine Blechschere hat. Ruck und zuck zeigte er mir das an dem dort vorhandenen Schraubstock und schnell war das Teil fertig und angebaut. Dann hoben wir den Fischkasten auf einen Handwagen, den er auch aus einer Ecke zauberte. Dann meinte er, dass seine Frau den Handwagen später abholen würde.
Nach noch einer Pfeife ging es dann aber endlich los. Hartmann nahm ein Gewehr und ging an eine der Schießscharten, lud das Gewehr, zielte und schoss. Nach dem Schuss nahm er ein großes Fernrohr und blickte in die Richtung, in der er geschossen hatte. „So“, sagte er dann, „ich will dir erst mal zeigen, was du machen musst.“ – Natürlich alles in seinem Thüringer Dialekt, den ich so gar nicht wiedergeben kann. Wir verließen das Gebäude zur Straßenseite. Es war ein warmer, sonniger Tag im April. Wir gingen einige Meter in Schussrichtung an der Seite des Gebäudes entlang bis zu einer Tür, die Hartmann aufschloss und durch die wir in einen anderen Raum gelangten. In diesem Raum befand sich eine etwa einen Quadratmeter große Schießscheibe aus Stahlblech. Auf dieser Schießscheibe war ein Kreis eingeprägt, der noch mehrmals unterteilt war.
Hartmann zeigte mir, wie ich die Scheibe mit Grafitöl zu überpinseln hätte, damit die von einem Schuss verursachten Abdrücke gelöscht werden. Nach dem Überpinseln sollte ich die Scheibe wechseln, falls die andere inzwischen beschossen wurde. Ich durfte mich aber in der Zeit, während geschossen wurde, nicht in dem Raum aufhalten. Es gab eine Klingel, mit der mich Hartmann warnte. Weil er manchmal auch zweimal auf eine Scheibe schoss, durfte ich erst wieder in den Raum, wenn er erneut geklingelt hatte. Dazu rief er mich durch ein Fenster noch an. Er war sehr besorgt, dass mir nichts passiert. Wenn er schoss und ich stand dicht an der geschlossenen Tür, hörte ich, wie die Schrotkugeln im Raum umher spritzten.
Die Scheiben standen auf kleinen Rollen und waren mit dünnen Stahlseilen verbunden. Die Verschiebung oder der Wechsel erfolgte seitlich. Von dem Raum zur Schießbahn gab es nur einen Schlitz, durch den die Scheiben verschoben wurden. Trotzdem kamen viele Schrotkugeln durch diesen Schlitz hindurch.
Nun gab es größere Pausen, in denen er mich zu sich rief. Ich sollte zusehen, wie die zusammengelöteten Gewehrläufe gerichtet werden. Wenn es vorkam, dass die beiden Läufe sich im Trefferbild überkreuzten oder auseinander gingen, musste etwas geändert werden. Dazu hatte Hartmann einen Spiritusbrenner mit mehreren Flammen, die sich auch gegenüber lagen. Sie hatten solch einen Abstand voneinander, dass ein darüber gelegter Doppellauf gleichmäßig erhitzt wurde. Damit sollte das Weichlot flüssig gemacht werden, um die Läufe entweder an den Mündungen zusammenzubringen oder den Abstand zu vergrößern. Es waren aber nur Hundertstel Millimeter, um die es dabei ging. Damit nichts schief gehen sollte, wurden die Läufe an den Mündungen straff mit weichem Draht umwickelt, bevor sie über den Brenner gelegt wurden. Zwischen den Läufen war ein Keil, der in die entsprechende Richtung bewegt wurde. Zum Zusammengehen der Läufe wurde der Keil ein geringes Stück nach vorn gezogen und im umgekehrten Fall leicht hineingetrieben. Der Keil musste vor dem Einschießen noch einige Millimeter herausschauen, sodass man ihn noch mit einer Flachzange greifen konnte. Der Keil wurde dann nach dem Einschießen vorsichtig abgefeilt, wobei die Laufmündungen kaum berührt werden durften, um das erreichte Trefferbild nicht zu verändern. Ich habe das später bei einigen Gewehren machen dürfen. Dazu muss man zum Feilen recht sicher sein. Bei einigen Gewehren musste mehrmals erwärmt werden. Hartmann konnte das gut. Er hatte nicht nur gute Augen zum Schießen, sondern zeigte auch recht viel Geschick und Erfahrungen beim Richten.
Bis zum Feierabend hatte er die Gewehre in Ordnung. Die Zeit reichte noch für eine gemütliche Pfeife. Wir arbeiteten damals bis zehn Minuten vor sechs und 54 Stunden in der Woche. Wir gingen pünktlich zurück zur Abteilung „Jagd“, sodass wir kurz vorm Hupen dort eintrafen und noch ordnungsgemäß die Gewehre abstellen konnten.
Am nächsten Tag nahmen wir weniger Gewehre mit, Hartmann hatte zwei und ich vier. Auf unserem Weg gingen wir nahe an einem Schrottplatz vorbei, auf dem Stanzreste lagen. Dort kramte Hartmann herum und kam mit einigen Streifen aus Blech zurück, aus denen man Teile so ausgestanzt hatte, dass man die Reste noch als Gitter verwenden konnte. Nach dem Hartmann seine Pfeife geraucht hatte, ging es wieder los. An den vor der Tür herumliegenden Fischkästen mussten die Durchflussöffnungen mit Gittern verschlossen werden. Der Handwagen mit dem großen Fischkasten vom Vortag war nicht mehr da. Hartmann sagte, dass seine Frau am Abend die Kästen wieder abholen wird. Da er nun wusste, dass ich in Dietzhausen wohnte, erzählte er, dass diese Kästen nach Dietzhausen gebracht würden. Gleichzeitig fragte er mich, ob ich ihm beim Fischen helfen würde, wenn es soweit sei. Ich sagte zu.
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