Leben statt Angst. Felix R. Paturi
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Das Beste für sie ist, dass sich in einem Arztwartezimmer der Gesprächsstoff quasi von selbst anbietet: die eigenen Wehwehchen. Viele Menschen sprechen über nichts lieber als über sich selbst und ihre Krankheiten. Die sind das Einzige, was ihnen Profil als Persönlichkeit verleiht, das Einzige auch, dem sich kaum ein Gesprächspartner entziehen kann, denn das wäre unhöflich. Natürlich kann ich sagen: ‚Können wir nicht über etwas anderes sprechen? – Fußball interessiert mich nicht‘ oder: ‚Mit Börsenkursen habe ich nichts am Hut‘. Aber ich kann schlecht jemandem ins Gesicht schleudern: ‚Lassen Sie mich doch mit Ihrer werten Krankheit in Ruhe, die ist mir so was von egal …‘ Nein, so taktlos darf man nicht sein.“
„Diese alten Leute“, sagte mir der Arzt weiter, „haben eine regelrechte Symbiose mit ihrem Zipperlein geschlossen, ihre Krankheiten sind oft zum – oftmals letzten – Lebenspartner geworden. Solche Patienten darf ich nicht kurieren. Ich würde ihnen alles nehmen, was ihnen als Lebensinhalt noch geblieben ist, und täte ich es, dann würden sie ernsthaft krank, oder sie stürben gar. Also dürfen sie bei mir im Wartezimmer sitzen und mit Gleichgesinnten über das plaudern, was sie am meisten beschäftigt. Manchmal finden dabei regelrechte Wettbewerbe statt: ‚Ich weiß ja, dass auch Sie Kreislaufprobleme haben, aber meine sind noch viel schlimmer als Ihre: Sie bekommen ja noch die blauen Tabletten, ich muss schon seit vorletztem Jahr die roten Kapseln schlucken, und der Doktor hat gesagt, die sind viel stärker.‘“
Das ängstliche kleine Frauchen
Wer mit seinen Ängsten öffentlich kokettiert, will damit oft nur Hilfsbereitschaft bei seinen Mitmenschen wecken.
Wie es eingebildete Kranke gibt, denen die Weltliteratur sogar Theaterstücke gewidmet hat, so gibt es auch nicht wenige eingebildete Angstkandidaten, die mit ihrem furchtsamen Wesen regelrecht kokettieren. Da ist das hilflose Frauchen, das schamlos jeden Möchtegern-Macho um den kleinen Finger wickelt, weil es doch so ängstlich ist und ohne männlichen Schutz den Grausamkeiten des Lebens hilflos ausgeliefert wäre. „Ach, könnten sie mich nicht nach Hause fahren? Ich fürchte mich im Dunkeln allein immer so.“
Da ist das kleine Kind, das seiner Mutter noch die zehnte Gutenachtgeschichte entlockt, weil es doch sonst vor dem Einschlafen Angst hat. Es geht kaum etwas leichter, als gutmütige Menschen mit Angst und vorgeblicher Schwäche zu nötigen und zu erpressen. Und was käme in einem Spielfilm besser beim Kinopublikum an als eine schreckhafte Blondine, die bei jeder Gelegenheit einen ebenso angsterfüllten wie markerschütternd gellenden Schrei ausstößt?
Menschen dieses Schlages haben sich mit ihrer Angst und Hilflosigkeit derart intim liiert, dass sie ohne diese Schwäche 80 Prozent ihrer Persönlichkeit einbüßen würden. Lassen wir ihnen ihren eigenwilligen Lebensstil, der alles in allem sogar recht erfolgreich ist.
Die Angst des Helden
Es gibt aber auch ganz andere Charaktere, die ohne Angst nicht leben können. Sie sind keineswegs auf fremde Hilfe aus, und meist handelt es sich bei ihnen sogar um überaus starke Naturen – deren Stärke allerdings aus der Überkompensation von Minderwertigkeitskomplexen erwächst. Zu ihnen gehören Extremsportler vom Steilwand-Snowboarder über den Zehn-Meter-Wellen-Surfer bis zum ungesicherten Freikletterer im 12. Schwierigkeitsgrad. Zu ihnen gehören Auto-Crashpiloten, ungesicherte Hochseilakrobaten, Jet-Kunstflieger und Frontberichterstatter. Und wieder anderen gibt es angstgeprägte Erfolgserlebnisse, ihre körperlichen Grenzen in völlig sinnloser Weise auszuloten, indem sie sich etwa an Wettsaufgelagen oder am Wettessen extrem scharf gewürzter Speisen beteiligen.
Seit der Steinzeit ist der Mensch in seinem Verhalten und seinen Reaktionen an die Konfrontation mit zahlreichen objektiven Gefahren gewöhnt. Weil es die meisten davon in unserer weitgehend risikofreien Gesellschaft heute nicht mehr gibt, suchen viele Menschen instinktiv nach Ersatzgefahren – vom harmlosen Horrorfilm bis zum halsbrecherischen Extremsport, um ihren evolutionär entwickelten Fähigkeiten zum Umgang mit Ängsten ein Spielfeld zu verschaffen.
Sie alle verbindet eine Hassliebe mit ihrer Angst. Sie brauchen die Angst einerseits wegen des Adrenalinkicks, nach dem sie süchtig sind. Sie brauchen das damit verbundene Allmachtsgefühl, das immer nach stärkeren und stärkeren Sensationen verlangt. Und sie brauchen die Angst auch als Lebensretter, denn Angst steigert das Wahrnehmungs- und Konzentrationsvermögen, erhöht die Reaktionsgeschwindigkeit und Entscheidungsbereitschaft. Zeitgenossen dieser Couleur wollen ihre Angst gar nicht loswerden. Sie möchten niemals auf den regelrechten Rausch der Angst und die damit verbundenen euphorischen Gefühle verzichten. Ein bisschen von diesem Kick erlebt der normale Sterbliche, wenn er Achterbahn fährt, wenn er sich einer Geisterbahn anvertraut oder mit Begeisterung Horrorfilme ansieht.
Furcht ist lebenswichtig
Gesunde Furcht kann ein lebensrettender Warner und Berater sein. Zugleich verleiht sie über körperliche Reaktionen Kraft und Schnelligkeit, um objektive Gefahren zu meistern.
Und dann ist da noch eine Form der Angst, die keineswegs verzichtbar ist. Ich will sie in diesem Buch zur besseren Unterscheidung gar nicht als Angst bezeichnen, sondern Furcht nennen. Diese Furcht ist ein feinfühliger Sensor, der uns vor realen Gefahren warnt. Es wäre Wahnsinn, ohne jede Furcht – entsprechend unzureichend vorbereitet – zu einer Hochgebirgstour aufzubrechen. Wen keine Furcht davor zurückhält, lebensgefährlich leichtsinnig zu handeln, der hat die besten Aussichten, sich eine Querschnittslähmung einzufangen oder buchstäblich Kopf und Kragen zu verlieren.
Auch die Furcht vor unmittelbar und deutlich erkennbar drohender Gefahr ist sinnvoll. Wenn ich in akuter Lebensgefahr vor etwas oder jemandem flüchte, dann verleiht mir die Furcht weitaus bessere Flügel als Red Bull. Sie versetzt mich in die Lage, in den autonom geschützten Bereich meiner körperlichen Reserven vorzudringen und erheblich höhere körperliche Leistungen zu erbringen, als mir das sonst selbst bei größter Anstrengung möglich wäre.
Lähmende Angst ist hartnäckig
Angst und Furcht können also durchaus sinnvoll sein. Wäre es nicht so, dann hätte uns die Evolution wohl kaum mit diesen Emotionen ausgestattet. Aber Angst kann auch sehr negative Formen annehmen. Übertriebene, unbegründete oder lange anhaltende Angst lähmt, macht entscheidungs- und handlungsunfähig, erzeugt psychische und physische Krankheiten und tötet jegliche Lebensfreude, Begeisterungsfähigkeit und Motivation. In diesem Buch geht es um derartige krankhafte Formen der Angst. Und die sind heute in unserem Kulturkreis leider sehr weit verbreitet und nehmen oft erschreckende Ausmaße an. Ihr Gesicht kann sehr vielfältig sein: von konkreten Phobien bis hin zu ganz allgemeiner, diffuser Daseinsangst.
„Angst essen Seele“, sagt ein schwarzafrikanisches Sprichwort. Und ein Mensch mit Seelenverlust – die moderne Psychologie spricht von partieller Dissoziation, meint damit aber dasselbe – ist ein in seinem ganzen Gefühlsleben, in seinem Wollen und Handeln und in seiner Selbstachtung behinderter Mensch. Das muss nicht so bleiben.