Heißes Geld. Jan Eik

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Heißes Geld - Jan Eik

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setzen, und dann würde es unmöglich, im Gegenstrom zu seinem Platz zurückzugelangen. Es war allemal gescheiter, sich unverzüglich auf den Weg zur S-Bahn zu machen, bevor der große Ansturm einsetzte.

      Die Tasche fiel ihm ein. War die es wert, sich in ein hoffnungsloses Getümmel zu stürzen? Klara besaß mindestens drei davon. Das olle Ding stellte keinen echten Verlust dar, und auch die verbeulte Thermosflasche ließ sich leicht ersetzen. Die wirklich wichtigen Dinge wurden am Mann getragen. So war Kappe noch nie etwas gestohlen worden. Klara dagegen hatte man im Laufe der Jahre zweimal das Portemonnaie geklaut und einmal die Wohnungsschlüssel. Aus reiner Gewohnheit tastete Kappe nach Polizeimarke, Brieftasche und Schlüsselbund. Alles war an seinem Platz. Beruhigt setzte er seinen Weg fort. Die ersten eiligen Heimkehrer stürmten an ihm vorbei. Hundert Meter vor dem S-Bahnhof merkte er, dass es zu regnen begann. Das Regencape! Klara würde wegen der unförmigen Pelle einen Heidenspektakel veranstalten. Resigniert schlug Kappe den Jackettkragen hoch. An Karl-Heinz dachte er nicht mehr.

      MENSCHENRAUB

      HILDEGUND HRIBAL saß an ihrem Arbeitsplatz und träumte. Nicht gerade von besseren Zeiten, aber wenigstens vom bevorstehenden Pfingstfest. Das bescherte ihr zweieinhalb freie Tage. Sie freute sich darauf, zumal laut Wetterbericht angenehme Temperaturen und Sonne zu erwarten waren. Wölfchen hatte versprochen, mit ihr an die Havel zu fahren. Vielleicht würden sie essen und eventuell auch tanzen gehen. Bei Wölfchen wusste man nie, wie er gerade bei Kasse war. Das wechselte in letzter Zeit. Bei ihr war das anders, da herrschte immer Ebbe im Geldbeutel. Das kleine Gehalt reichte nur für das Notwendigste. Immerhin war sie für Montagabend zum Nachtdienst eingeteilt worden und erhielt so einen kleinen Zuschlag. Sie musste Wölfchen nur beibringen, dass solche Dienste nun mal zu ihrem Beruf gehörten.

      Ohne wirklich hinzusehen, blickte Hildegund hinüber auf die grauen Fassaden der Messehallen, die jenseits der breiten Allee in der Mittagssonne glänzten. Lehnte sie sich ein wenig zurück, konnte sie sogar die winzigen Gestalten auf dem Funkturm erkennen, die von der Aussichtsplattform auf das schiffförmige Klinkergebäude hinunterschauten, in dem sie an ihrem Schreibtisch darauf wartete, dass ein vor Aufregung schwitzender Jungredakteur ihr stammelnd einen Kommentar diktierte. Darin würde er zum tausendsten Mal in mäßigem Deutsch das «Kriegstreiberregime da draußen» madigmachen. Direkt vor ihren Augen lag der böse, wilde Westen mit den vielen Arbeitslosen – und mit all jenen Verlockungen, denen Hildegund insgeheim ganz gerne erlegen wäre. Sie seufzte. Vielleicht ergab sich einmal eine Gelegenheit …

      Aus dem Zimmer des stellvertretenden Chefredakteurs drangen streitende Stimmen. «Wir werden dem Gegner keine Steilvorlage liefern!», dröhnte er. «Eine solche Meldung geht nicht über meinen Tisch!» Worauf jemand sarkastisch anmerkte, dass den Hörern bei dieser Zurückhaltung nichts anderes übrigbleibe, als sich beim RIAS über die Unterbrechung des Telefonnetzes zu informieren. Das war Hünicke, ein junger Bursche mit einer frechen Schnauze, dem der Chef sofort lautstark über den Mund fuhr: «Darüber unterhalten wir uns an anderer Stelle! Einer wie du braucht einen alten Genossen wie mich nicht über die Rolle des RIAS aufzuklären!»

      Die Drohung des «alten Genossen» von knapp dreißig Jahren überraschte Hildegund nicht. Jeder wusste, dass der von den Amerikanern bezahlte Rundfunk aus dem amerikanischen Sektor hier im Haus als rotes Tuch galt. Die Erwähnung des Feindsenders war – wenn überhaupt – nur unter Beifügung saftiger Vokabeln üblich. Und dass der Telefonverkehr zwischen Ost und West seit Dienstag unterbrochen war, musste inzwischen auch der Letzte mitgekriegt haben.

      Hildegund hatte sich längst abgewöhnt, auf den Inhalt der Phrasen zu achten, die täglich nicht nur an ihre Ohren drangen, sondern auch auf ihren Stenoblock und anschließend in die Tasten gerieten. Nur gelegentlich machte sie auf eine besonders unpassende Formulierung aufmerksam oder korrigierte die schlimmsten Sprachschnitzer. Sie war inzwischen zur Sekretärin des stellvertretenden Chefs aufgestiegen, aber keiner von diesen neunmalklugen Fatzken ließ sich gerne von einer einfachen Tippse belehren. Stattdessen machten die Kerle sich auf schleimige Art an sie ran oder versuchten, ihr mehr oder weniger direkt an die Wäsche zu gehen. «Sexualproviant», hatte mal einer gesagt und damit all die schlechtbezahlten jungen Frauen im Haus gemeint, die in den Sekretariaten, in der Telefonzentrale und in der Technik arbeiteten.

      Sexualproviant! Für so was war sich Hildegund zu schade. Ihr beinahe vergessener Verlobter, eine Kinderfreundschaft aus dem Nachbarhaus, war vom letzten Einsatz an der Oder nicht zurückgekehrt, ihr kurzzeitiges Verhältnis mit einem Kaffeeschieber bald gescheitert. Und schließlich hatte sie es nach zwei Versuchen auch aufgegeben, sich mit einem der Redakteure aus dem Funkhaus einzulassen. Politische Agitation störte sie im privaten Bereich. Zu allem Unglück hatte sich der erste Kandidat, bei der täglichen Arbeit ein besonders scharfer Genosse, unerwartet als westlicher Provokateur entpuppt, der seine Agentenausbildung in britischer Kriegsgefangenschaft verheimlicht hatte. Ihr hatte das einigen Ärger eingebracht. Der zweite, ein ausnehmend schöner Mann, um den alle Frauen sie beneideten, hatte sich im Endeffekt als einer von den vielen Homosexuellen im Hause erwiesen und wollte die Beziehung zu einer Frau als Tarnung nutzen.

      Allen schlechten Erfahrungen zum Trotz wäre Hildegund mit ihrem Leben zufrieden gewesen, hätte sich Zufriedenheit überhaupt unter den von ihr erwogenen Möglichkeiten menschlicher Existenz befunden. Sie war ein von Natur aus kritischer Mensch, der nicht zu viel von den eigenen und noch weniger von den Leistungen und Fähigkeiten anderer hielt. Glücklicherweise hinderte ihre Intelligenz sie daran, sich diesbezüglich zu äußern. Im jahrelangen engen Zusammenleben mit einer starrsinnigen Mutter war es ihr gelungen, ihre Schweigsamkeit so weit zu vervollkommnen, dass man sie allgemein für zurückhaltend, ja beinahe schüchtern hielt. Als eine nicht mehr ganz junge, stets wie aus dem Ei gepellte, dezent geschminkte und sorgfältig frisierte junge Frau hinterließ sie überall den allerbesten Eindruck. In normalen Zeiten wäre sie längst als Mutter schulpflichtiger Kinder mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen. Aber die Zeiten waren, sieben Jahre nach Kriegsende, in ihren Augen keineswegs als normal anzusehen.

      Anders als ihr armer Vater, der in den Weiten Russlands verschollen blieb, hatte sie den Krieg leidlich überstanden. Als 25-jährige Nachrichtenhelferin mit Fernschreibpraxis, mit guten Schreibmaschinenkenntnissen also, besaß sie keine schlechte Ausgangsposition für einen Neuanfang. Das bisschen Steno flog ihr beinahe zu. Die kränkelnde Mutter hatte den Nahrungsmangel und den kalten Winter ’47 nicht überstanden und ihr die schlicht eingerichtete Wohnung der einstigen Familie in der Palisadenstraße hinterlassen: Stube und Küche im Hinterhof, immerhin mit Innentoilette. Das war keine erstklassige Adresse, doch sehr viel mehr, als andere junge Frauen ihr Eigen nannten. Wohnraum war knapp in Ost und West. Von den Neubauten an der Stalinallee erwarteten bloß Aktivisten des Nationalen Aufbauwerks und sächsischsprechende Funktionäre eine Verbesserung. Hildegund stand der Sinn nicht nach freiwilligen Aufbaustunden, wenn sie abends todmüde nach Hause kam.

      Dass ihr die Wohnung noch zu einem ganz anderen Vorteil gereichen würde, hätte sie nicht erwartet, als sie sich vor drei Jahren auf den Rat einer Bekannten hin beim Berliner Rundfunk bewarb. Dessen Generalintendanz befand sich im alten Goebbels-Ministerium am Kaiserhof, der jetzt Thälmannplatz hieß, die Personalabteilung saß nicht weit entfernt, in der Friedrichstraße. Dort empfing sie ein finster wirkender, dunkelhaariger Mann unbestimmten Alters, dessen durchdringender Blick sie irritierte. Erst als sie den Beruf des Vaters – der war Maurer – angab, wurde seine Miene wohlwollender und hellte sich bei ihrer Adresse endgültig auf. «Wir brauchen dringend junge Arbeiterkader aus dem Osten», äußerte er mit dem rollenden R des Sudetendeutschen, und damit war sie eingestellt.

      Es war ein bemerkenswertes Unternehmen, in das sie da geriet. Berliner Rundfunk und Deutschlandsender residierten als Deutscher Demokratischer Rundfunk unter sowjetischem Schutz im Funkhaus der ehemaligen Reichsrundfunkgesellschaft in Charlottenburg und damit im britischen Sektor von Berlin. Vor dem ansehnlichen Klinkerbau an der Masurenallee verkündeten nicht zu übersehende Tafeln: Achtung! Dies ist kein Westberliner Sender! Dennoch führten alle Kabel

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