Kaltfront. Petra Gabriel
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Ida wagte einen Blick auf Peter Klaus. Von vorn sah sein Gesicht unverletzt aus. Nur die Augen waren wie in völliger Verblüffung weit aufgerissen. Er musste seinen Mörder gekannt haben. Der tödliche Schlag war wohl von hinten gekommen.
Jetzt, da Ida näher bei ihm stand, erkannte sie, dass der Fleck auf der Matratze, der sich noch immer weiter ausdehnte, keineswegs nur aus Blut bestand, sondern auch aus Hirnmasse. Sie würgte, wich zurück und trat auf etwas. Am Boden lag das kleine Fleischbeil, das sie zum Hacken der Suppenknochen benutzten. Sie waren nicht reich, Schweine- und Rinderknochen gab es billig beim Metzger. Die ergaben zusammen mit Kartoffeln und selbstgesammelten Esskastanien oder gerösteten Nüssen einen wohlschmeckenden Eintopf. Und jetzt das! Das Fleischbeil lag normalerweise ordentlich verstaut in einer Küchenschublade. Wer diesen Mann erschlagen hatte, musste von dem Beil gewusst haben. Lenchen? O nein, nicht Lenchen! Ob er versucht hatte, sie … Idas Verstand weigerte sich zunächst, den Gedanken zu Ende zu denken. Doch er ließ sich nicht wegdrängen. Peter Klaus hatte Lenchen in der letzten Zeit so seltsam angestarrt, wenn er glaubte, niemand beobachte ihn. Nein, nein, nicht Lenchen! Lenchen war doch noch ein Kind!
Aber wer dann? Wieso war Peter Klaus überhaupt hier? Er hatte doch gesagt, er würde länger weg sein.
Ida zögerte. Sollte sie die Polizei alarmieren? Nein. Es war besser, sie verschwand hier. Schnellstens. Außerdem musste sie versuchen, Lenchen zu finden. Womöglich trieb sich das Kind bei dieser Affenkälte draußen herum und wusste nicht, wo es hin sollte. Am Ende erfror das Mädchen noch! Oder die von drüben fingen Lenchen ein wie einen herrenlosen Hund und taten ihr am Ende etwas an, weil sie in ihr eine Mitwisserin vermuteten. Nicht auszudenken! Lieber ging Ida selbst dabei drauf. Aber nicht Lenchen! Sie konnte doch für all das nichts.
Nach Lage der Dinge konnten Lenchen und sie jedenfalls nicht in dieser Wohnung bleiben. Hastig kramte Ida die wenigen Habseligkeiten zusammen, die im Schrank verstaut waren, und steckte sie in den alten Pappkoffer, den sie ebenfalls dort deponiert hatte. Wohin sollte sie gehen? Es fiel ihr schwer, klar zu denken. Sie musste dem Mädchen eine Nachricht hinterlassen. Aber wo? Vielleicht in dem toten Briefkasten? Nein, von dem wusste Lenchen nichts. Ida fiel nur einer ein, der ihr vielleicht helfen würde: Uwe Müller. Ursula kannte ihn gut. Sie hatte ihm vertraut, sonst hätte sie Müller niemals die Adresse ihrer Schwester Ida als Anlaufstelle genannt, als er in den Westen gewechselt war. Er hatte eines Tages vor ihrer Tür gestanden. Ida hatte ihn zunächst aufgenommen, ihm bei der Wohnungssuche geholfen und ihm durch ihre Empfehlung eine Stelle bei der Gasag vermittelt. Dort hatten sie gerade einen Ingenieur gesucht.
Idas Fluchtinstinkt wurde übermächtig. Nur weg von hier, dann konnte sie vielleicht besser denken.
Da hörte sie Schritte im Hausflur. Und Männerstimmen. Sie konnte zunächst nicht verstehen, was geredet wurde. Dann klingelte es. Einmal. Zweimal. Jemand sagte: «Da brat mir einer ’nen Storch! Die Tür steht offen, aber niemand meldet sich.»
Ida überlief es siedend heiß. Sie hatte die Wohnungstür nur angelehnt. Hastig klappte sie den Koffer zu und stellte ihn in den Schrank zurück. Kurz dachte sie darüber nach, sich ebenfalls dort zu verkriechen. Aber im Schrank würden sie sicher zuerst suchen. Wohin dann?
«Brr, hier is es janz schön kalt», sagte der eine.
Ida schaute sich verzweifelt um. Die Stimme kannte sie! Aber woher? Der Mann war schon im Flur. Blieb als Versteck nur noch dieses Zimmer.
«Dann schauen wir uns mal um», antwortete der andere. «Vielleicht bekommen wir Hinweise darauf, ob hier jemals eine Fälscherwerkstatt gewesen ist. Haben die Kollegen eigentlich herausgefunden, wer unter dieser Adresse gemeldet ist, Otto? Hat Rückert vorhin am Telefon etwas dazu gesagt?»
«Nee, hat er nich. Er hat noch nicht mal nachgefragt, warum ich det wissen wollte.»
«Vielleicht ahnt er, was wir treiben. Is ihm wohl lieber, im Zweifel sagen zu können, er wisse von nichts.»
«Vermutlich. Das rechne ich ihm ooch hoch an. Aber zurück zur Wohnung. Ich hab selber mal ’n bisschen nachgeforscht und meine Kontakte jenutzt, bevor ich zu dir gekommen bin. Dit ist seltsam, hier is niemand jemeldet. Eigentlich steht die Bleibe leer, Onkel Hermann.»
«Wie ich höre, bist du voller Tatendrang. Das freut mich. Geht es dir inzwischen etwas besser?»
«Der erste Schock is vorbei. Un nu hab ick ja Hilfe. Jeh du ins Wohnzimmer, ick jeh ins Schlafjemach.»
Ida hörte ein zustimmendes Brummen. Ihr Körper versteifte sich. Sie schaute sich panisch um. Wohin? Die Schritte näherten sich. Sie schloss möglichst leise die Schranktür, quetschte sich unter das Bett und flehte innerlich zu allen Heiligen, die ihr einfielen, dass nichts von dem Blut und dem Hirn des Toten auf sie heruntertropfen würde. Der süßlich-metallische Geruch des ekligen Gemischs brachte sie fast zum Brechen. Ihre Wunde stach schmerzhaft. Ida hatte Mühe, nicht aufzuschreien.
Sie vernahm ein leichtes Schlurfen, dann sah sie pelzverbrämte Männerstiefel, die am Bettrand stehen blieben. Ida versteifte sich noch mehr und hörte dann die ihr bekannte Stimme sagen: «Is denn det zu glaubn! Onkel Hermann, komm mal her! Hier liecht ’n Toter!»
Da fiel Ida ein, woher sie die Stimme kannte. Das war der Mann, der hinter ihr her gerufen und dann auf sie geschossen hatte. Polizei, Polizei, Polizei! Die Worte dröhnten wie Ambossschläge in ihrem Kopf. Beinahe hätte sie aufgestöhnt, gerade noch konnte sie sich beherrschen.
Weitere Schritte näherten sich, das Geräusch eines stolpernden Menschen folgte, dann war ein Fluch zu hören sowie die Worte «Scheiß Flickenteppich». Pause. Schließlich sagte der Mann: «Was für ’n Galama! Was machen wir nu?»
Einige Sekunden herrschte Stille. Dann sagte die Stimme, die sie kannte: «Wenn wir die Kollegen holn, dann wissen die, dass wir in der Wohnung warn, Onkel Hermann. Das wär schlecht.»
«Das wär sehr schlecht», antwortete die andere Stimme. «Da du suspendiert bist, könnte das so aussehen, als hättest du etwas vertuschen wollen. Hoppla, hier liegt ein Beil!»
«Das erinnert mich an diesen Massenmörder. Wie hieß der noch? Du weißt schon, Onkel Hermann, ich meine den, auf den es ein Lied gibt.»
«Der Mann hieß Fritz Haarmann. Warte, warte nur ein Weilchen, / bald kommt Haarmann auch zu dir, / mit dem kleinen Hackebeilchen, / macht er Schabefleisch aus dir», sang der Ältere. «’25 ist er gestorbn, kam aus Hannover, wenn ich mich richtig erinnere. Du glaubst an einen Serienmörder?»
«Nee, eigentlich nich. Ich denk eher, das war ’ne Tat im Affekt, so wie der Mann kiekt. Womöglich glauben die noch, ich hätte …»
«Nee, das glauben die nicht. Nie und nimmer. Die Kollegen kennen dich schließlich, Otto. Die wissen, dass wir Kappes so etwas niemals tun könnten. Du und ich, wir fangen Mörder. Aber wir sind keine.»
«Trotzdem …»
«Ja, trotzdem … Die Situation ist misslich.»
«Und wat machn wir nu?»
«Ich denke, wir gehen wieder und tun so, als wären wir nie hier gewesen. Und ich rufe bei den Kollegen an, anonym, mit verstellter Stimme.»
Ida hörte ein zustimmendes Brummen. «Und ick schau die Tage mal ganz unverbindlich bei die Kollegen vorbei und erkundige mir, wie es so geht.»
«Otto?»