Kaltfront. Petra Gabriel
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«Aber sie kann doch nicht einfach so …», hob Otto an.
«Ida hat gesagt, sie müsse dringend weg, hat ihre Sachen gepackt und sich aus dem Zimmer geschlichen. Die Schwestern wissen noch nichts davon. Sie hat uns beschworen zu warten, bis wir was sagen», erwiderte die junge Frau.
«Ida heißt sie also», sagte Hermann Kappe.
«Hat se jesacht», fiel die Dicke ungeduldig ein.
«Und warum wollte sie so dringend weg?»
«Dit hat se nich jesagt», antwortete die am Vortag Operierte. «Also, jehn Se nu?»
«Ja, wir gehen ja schon», sagte Kappe.
Als sie den Stationsarzt endlich aufgetrieben hatten, konnte der ihnen auch nicht mehr sagen. Er wusste noch nicht einmal, wie die verschwundene Patientin mit Nachnamen hieß, und zuckte nur müde mit den Schultern. Es sei zu viel zu tun. Ständig kämen Leute mit Erfrierungen oder Brüchen nach Stürzen auf glatten Bürgersteigen rein. Er komme kaum nach. Aber vielleicht wüssten die Kollegen in der Notaufnahme mehr.
Die junge Krankenschwester, die dort Dienst tat, war geschockt, als sie vom Verschwinden der Frau erfuhr. Papiere habe diese nicht bei sich gehabt. Sie habe sich zudem geweigert, ihren Namen zu nennen. Weil sie sehr verwirrt gewirkt, offenbar unter Schock gestanden und stark aus einer Kopfwunde geblutet habe, sei sie von der Notaufnahme zunächst in die Chirurgie überwiesen worden. Es sei dringender gewesen, das Blut zu stillen und die Schusswunde zu versorgen, als Papiere auszufüllen. Danach sei sie auf die Innere verlegt worden. Eigentlich habe sie demnächst nach ihr schauen wollen.
«Aber nun ist sie weg», sagte Hermann Kappe.
«Ja, nun ist sie weg», wiederholte sein Neffe.
«Und was machen wir nun?», fragte die Krankenschwester.
«Gute Frage», sagte Hermann Kappe. «Ich denke, wer die Rechnung bezahlt, müssen Sie selbst klären. Wir gehen dann.» Damit nickte er der Schwester zu und machte sich mit Otto auf den Weg nach draußen. «Und wir beiden Hübschen, lieber Neffe, sollten herausfinden, wem die fragliche Wohnung eigentlich gehört», fügte er an, während sie durch den Flur marschierten.
Otto nickte. «Ich werd meine Quellen anzapfen. Das solltest du am besten auch tun, Onkel Hermann. Vielleicht kriegn wir denn ’nen Hinweis, woher der Tipp jekommen is.»
«Männerstimme? Frauenstimme?», hakte Kappe nach.
«Wees ick nich.»
«Dann wissen wir wirklich nicht viel», antwortete Kappe, machte aber ein zufriedenes Gesicht. Die Entwicklung war zwar sehr unerfreulich, aber ihre Nachforschungen schienen Otto ein wenig abzulenken, er wirkte schon ein wenig gefasster. Und er selbst konnte endlich mal wieder arbeiten, anstatt Klara auf Märkte zu begleiten und Bücklinge zu kaufen. Dass er seinem Neffen half, dagegen konnte selbst Klara nichts einwenden. «Wie ist das mit deinen Kollegen? Könntest du jemanden von ihnen um Hilfe bitten? Wir werden sie wohl brauchen.»
Otto zögerte eine Weile und nickte dann. «Günther Kynast. Der ist ziemlich schnoddrig, gibt sich abgebrüht, aber eigentlich ist er ’ne gute Seele. Rückert natürlich. Und dann noch Hans-Gert.»
«Hans-Gert? Der Enkel vom ollen Gustav Galgenberg? Ich dachte, der sollte versetzt werden.»
«Nee, sie haben ihn dann doch hierbehalten. Der Chef war wohl der Meinung, Kappe zwei und Galgenberg zwei könnten ein gutes Team ergeben. Allerdings ist Hans-Gert gerade im Urlaub, er kommt nächste Woche wieder.»
«Dann ist ja gut», meinte Kappe und bekam Sehnsucht nach dem ollen Gustav Galgenberg. Der sah längst die Primeln von unten. Wenn dessen Enkel so gut mit Otto zusammenarbeitete wie er einst mit Galgenberg, dann konnten alle sich glücklich schätzen. «Vielleicht sollten wir damit anfangen, dass wir uns die Wohnung am Fraenkelufer noch mal genauer anschauen. Womöglich ist der Inhaber oder die Inhaberin jetzt zu Hause. Wenn wir Glück haben, handelt es sich sogar um diese Ida Sowieso, und wir können mit ihr reden.»
KAPITEL DREI
in dem eine Frau verzweifelt nach ihrer Nichte sucht
IDA BERKOWITZ hielt sich den ganzen Tag über in U-Bahn-Schächten und S-Bahnhöfen warm. Niemand achtete auf die schmale Frau mit dem grauen Wollschal über den Haaren, die in dem schweren Ulstermantel fast versank und sich mal da und mal dort hinsetzte. Manchmal zuckte sie zusammen, wenn die Wunde unter dem breiten Verband nach einer unbedachten Bewegung schmerzte. Keiner bemerkte es. Alle wollten nur eiligst von A nach B, vor allem aber schnellstens ins Warme.
Das war nicht ganz einfach, denn vor der Kälte kapitulierte nicht nur die Bevölkerung, sondern immer wieder auch die Technik. Es gab Oberleitungsschäden, und die Schienen waren teilweise durch den Frost geborsten. Die BVG bemühte sich zwar um Ersatzrouten und Ersatzfahrzeuge, aber das entspannte die Lage nur unwesentlich. Die Busse, die fuhren, waren brechend voll. Auf den Straßen herrschte allenthalben Chaos. Nicht weil viel Schnee gelegen hätte, sondern wegen der vielen Wasserrohrbrüche und weil Autos aller Fabrikate den Dienst versagten.
Überall, wo sich Menschen trafen, war die Kälte deshalb das beherrschende Thema. Während Ida Berkowitz durch Straßen, Tunnelschächte und U-Bahnhöfe irrte, fing sie im Vorübergehen Gesprächsfetzen auf. Die Boote der Wasserschutzpolizei konnten nicht mehr auslaufen, vom kleinsten Rinnsal bis hin zum Großen Wannsee war inzwischen alles zugefroren. In einigen Schulen waren sogar «Kälteferien» angeordnet worden, obwohl es so etwas in Berlin offiziell gar nicht gab. Die Leute unterhielten sich auch darüber, dass die Revierstreifen, die Funkwagenbesatzungen und die Verkehrspolizisten in Anbetracht des Frostes nicht länger als eine Stunde am Stück und nicht mehr als sechs Stunden am Tag Außendienst tun durften. Selbst in der Landespolizeidirektion schenkten sie heißen Tee aus. Die Verkehrsposten der Polizei bekamen auf Anordnung des Kommandos der Schutzpolizei Tee mit Rum in Thermoskannen mit. Die Eil- und Telegrammboten sowie die Briefträger konnten sich alle drei Stunden bei Tee im Postamt aufwärmen. Die Kraftfahrer der Post erhielten ebenfalls eine warme Stärkung, wenn um 10 Uhr morgens bereits 10 Grad Kälte herrschten.
Ida hatte keinen heißen Tee. Sie fror trotz des schweren Herrenmantels und des wärmenden Muffs für die Hände erbärmlich. Der Frost war ihr inzwischen durch die undichten Sohlen der Stiefeletten bis in die Seele gekrochen. Und sie hatte große Angst um Lenchen. Hoffentlich war ihre Nichte schlau gewesen und hatte sich in der Wohnung versteckt gehalten. Hoffentlich hatten die Polizisten sie nicht entdeckt. Und, das machte Ida die größten Sorgen, hoffentlich auch nicht die anderen. Die sie unter Druck setzten und sie zwingen wollten, für sie zu spionieren. Wenn sie es genau nahm, hatte sie eigentlich nur eine Hoffnung: dass sie Lenchen nicht erwischten, weil ihre Nichte offiziell überhaupt nicht existierte. Wenn sie erfuhren, dass es das Mädchen gab, würden sie es sicherlich holen kommen. In der Zone waren sie nicht zimperlich, wenn es um die Kinder verurteilter Zuchthäuslerinnen ging. Fünfzehn Jahre hatte ihre Schwester Ursula im Januar bei ihrem Prozess vor dem Stadtgericht bekommen. Nein, in der Zone durften sie auf keinen Fall herausfinden, dass es Lenchen gab. Sonst würden sie die uneheliche Tochter der Zuchthäuslerin wegholen, sie vielleicht sogar entführen und in eine parteikonforme Pflegefamilie stecken. So etwas hörte man immer wieder.
Und sie selbst? Warum schoss jemand auf sie? Sie hatte doch getan, was sie wollten. Vielleicht