Kaltfront. Petra Gabriel

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Kaltfront - Petra Gabriel

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dachte an Ursula, ihre kleine Schwester Ursula. Die gehörte zu denen, die in den Zeitungen der Zone KgU-Banditen genannt wurden. KgU stand für «Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit» – eine von den Amerikanern unterstützte West-Berliner Organisation, die in der Zone den Widerstand gegen die SED unterstützte. In der Berliner Zeitung war Ursula als gewissenlos und frech beschrieben worden, als Seelenverkäuferin, die nicht menschlich denke und fühle, als Agentin der KgU-Verbrecherzentrale, die Namen und Adressen von Mitarbeitern volkseigener Betriebe an den Westen verkauft haben solle. Ida erinnerte sich genau an die Sätze, hatte sie immer und immer wieder gelesen.

       Ungerührt bekannte die Berkowitz auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden, ob sie den Hauptagenten Latschetschek – mit dem sie schlief, als ihr Mann im Krankenhaus lag – nach dem Wofür gefragt habe: «Er sagte mir, dass es für die Ernst-Ring-Straße sei.» Vorsitzender: «Wussten Sie, was da ist?» Angeklagte: «Ja, ich wusste aus Unterhaltungen, dass dort die KgU-Zentrale ist. Ich wusste, dass man es für Spionagezwecke haben wollte.»

      Spionagezwecke – wie sich das anhörte! Anfangs war es bei der KgU doch nur darum gegangen, eine Datei für einen Suchdienst aufzubauen, der in der Sowjetunion vermissten deutschen Soldaten nachspürte und damit den Angehörigen, denen der Suchdienst des Roten Kreuzes nicht helfen konnte, endlich Klarheit darüber verschaffen konnte, warum ihre Männer, Söhne und Brüder nicht längst heimgekehrt waren. Und ja, es ging auch um Vergeltung. Für das, was nach Kriegsende mit den Frauen geschehen war. Zum Beispiel mit Ursula, der angehenden Ingenieurin, die ihrer Tochter Lenchen niemals in die Augen sehen konnte.

      Und so hatte Ida ihre Nichte Lenchen zu sich genommen, das Kind, von dem niemand wissen durfte. Auf Letzterem hatte Ursula bestanden. Latschetschek – mit dem sie schlief. Ida fragte sich, wo sie das nun wieder herhatten. Ursula hatte keinen Geliebten. Sie schlief mit keinem Mann. Seit damals nicht mehr.

      Was geschehen war, konnte niemand ändern. Doch Ida durfte nicht zulassen, dass sie Lenchen bekamen. Obwohl sie zunehmend Schwierigkeiten miteinander hatten, liebte sie das Mädchen von Herzen.

      Lenchen war meist in sich gekehrt und ertrug es nicht, wenn man ihr zu nahe kam. Sie überfielen dann regelrechte Tobsuchtsanfälle, bei denen sie nicht mehr zu wissen schien, was sie tat. Ida hatte sich mehr als einmal gefragt, ob sich die Umstände der Zeugung eines Kindes vom Moment der ersten Teilung der Eizelle an in der Seele eines Fötus festsetzen konnten. Aber sie wusste, dass das Unsinn war.

      Nein, es war nicht immer einfach gewesen mit Lenchen. Dennoch hatte sie ihre Nichte so gut es ging selbst unterrichtet und sie, wann immer es ihr möglich gewesen war, nach draußen gebracht und ihr die Welt außerhalb der Wohnung gezeigt. Seltsamerweise hatte es Lenchen in den ersten Jahren nicht viel ausgemacht, die meiste Zeit ihres Lebens drinnen zu verbringen. Doch das hatte sich inzwischen vollkommen geändert.

      Vielleicht lagen ihre zunehmenden Probleme mit dem Kind auch daran, dass Lenchen langsam zu begreifen begann, dass bei ihr einiges anders war als bei anderen Kindern. Sie stellte Fragen. Aber Lenchen war doch erst elf Jahre alt! Was hätte sie ihr antworten sollen? Ida spürte, dass ihre Nichte ihr nicht mehr vertraute. Sie wurde zunehmend verstockter, und inzwischen verschwand sie einfach immer wieder tagelang. Ida hatte den Verdacht, dass sie stahl. Sie hatte Lenchen vorsichtig darauf angesprochen. Doch diese hatte äußerst aggressiv auf ihre Vorhaltungen reagiert und war dann wieder einmal einfach abgehauen.

      Sie konnte das Kind doch nicht einsperren! Lenchen hatte recht, wenn sie Aufklärung einforderte und fragte: «Warum muss ich mich immer verstecken? Warum darf niemand wissen, dass es mich gibt? Weil du dich für mich schämst? Weil du nicht willst, dass die Leute von deiner unehelichen Tochter wissen?» Lenchen hielt sie für ihre Mutter. Das Kind wusste von nichts. Wie sollte man ihm auch sagen, dass es das Ergebnis einer Vergewaltigung war und die wirkliche Mutter seine Gegenwart nicht ertrug? Dass die Mutter im Zuchthaus saß und ihr Vermögen eingezogen worden war. Wie sollte man das einem Kind sagen?

      Anfangs waren Ursula und sie tatsächlich bei einigen kleineren Sabotageakten der KgU dabei gewesen, aber inzwischen schon lange nicht mehr – nicht mehr, seit es 1951 und 1952 eine Welle von Todesurteilen in der DDR gegeben hatte. 250 Angeklagte hatten vor Sowjetgerichten gestanden, 70 Todesurteile wegen «konterrevolutionärer Verbrechen» hatten die Militärtribunale auf der Grundlage des Artikels 58 aus dem Strafgesetzbuch der RFSSR, der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepubliken, ausgesprochen. Das durften sie seit dem Vertrag von Jalta und dem Genfer Abkommen von 1949. Ursulas Mann hatten sie auch hingerichtet. Ulrich, von dem sie sich gleich nach der Vergewaltigung hatte scheiden lassen und der weder von der Gewalttat noch von Lenchen je etwas erfahren hatte.

      Ein halbes Jahr vor Ursulas Verhaftung hatte Ida sich zusammen mit Lenchen eine Bleibe im Westen gesucht. «Republikflucht» nannten sie das in der Zone. Darauf standen schwere Strafen. Dann war sie zur SPD und zur KgU gekommen, hatte sich dadurch Freunde und einen gewissen Schutz erhofft. Aber die hatten ihr auch nicht helfen können. Die Spitzel vom MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit, hatten sie am Ende doch gefunden. Sie musste es also allein schaffen, irgendwie. Was sollte aus Lenchen werden, wenn sie selbst auch noch ins Gefängnis kam? Wenn sie nicht tat, was die wollten, blühte ihr das sicher. Es gab genügend Beispiele für Menschen, die aus West-Berlin in die Zone entführt worden waren, und für drakonische Urteile, auch wegen «Republikflucht».

      Ein Mitangeklagter von Ursula, Ewald Janike aus Köpenik, ein ehemaliger Volkspolizist, war wegen «Spionage, Hetze und terroristischer Umtriebe» zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Und warum? Weil er genau das Gleiche wie sie selbst für die KgU getan hatte: Er hatte in Briefen Berliner in der Zone zur «Flucht nach dem Westen» zu überreden versucht. Außerdem sollte er die Stärke der Arbeiterkampfgruppen in den ihm bekannten Betrieben verraten und dem «Klassenfeind» Hinweise für die Durchführung von Sabotageakten gegeben haben.

      Und jetzt hatte sie selbst einen Sabotageakt verübt – aber gegen ein West-Berliner Unternehmen: die Gasag, die Gaswerke AG. Ihr wurde schlecht, wenn sie nur daran dachte. Nun arbeitete sie also für das MfS. Sie hatten sie dazu gezwungen und gedroht, sie sonst wegen «Republikflucht» in ein Ostgefängnis zu schaffen. Und sie hatten sie erpresst, mit Ursula.

      «Wollen Sie denn nicht, dass Ihre Schwester im Gefängnis einige Erleichterungen bekommt? Es kann hart werden für jemanden, der draußen keine Freunde hat. Es gäbe sogar die Möglichkeit, ihr das Leben schwerzumachen, wenn Sie nicht mitziehen. Anderenfalls könnten wir uns womöglich sogar bereit erklären, Ihre Schwester in den Westen zu entlassen. Gegen Devisen. Sie haben doch Devisen?» Das waren die Worte ihres Kontaktmanns Lars Bendler gewesen. 30 000 Mark wollten sie haben. Für diese Summe und für ihre Mitarbeit waren sie bereit, Ursula freizugeben.

      «Woher soll ich 30 000 Westmark nehmen?», hatte sie Bendler gefragt. «So viel Geld bekomme ich von meinem Sekretärinnengehalt nie im Leben zusammen.»

      «Das kriegen wir schon hin. Arbeiten Sie nur fleißig für uns! Es gibt vieles, was Sie für uns tun können. Sich umhören zum Beispiel, in der KgU, im SPD-Büro Ost. Dort, wo unsere Feinde sitzen. Wir bezahlen Sie für die Informationen und legen die Summe auf ein Konto. Ausnahmsweise. Wenn Sie sich die 30 000 Mark erarbeitet haben, lassen wir Ihre Schwester frei. Und denken Sie daran, wir behalten Sie immer im Auge!»

      Daraufhin war sie in der geheimen Wohnung der KgU am Fraenkelufer untergetaucht. Bei diesem undurchsichtigen Peter Klaus. Sie hatten sich bei einer KgU-Versammlung getroffen, und er hatte mit seinen Kontakten geprahlt und ihr hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass er die geheimen Wohnungen der KgU kenne. Normalerweise hätte Ida sich nie an einen solchen Schwätzer gewandt, doch jemand anderes war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.

      Vielleicht würden die von drüben sie vergessen und sich ein anderes Opfer suchen. So hatte sie sich das jedenfalls erhofft. Wie hatte sie nur so naiv sein können! Wahrscheinlich

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