Mitternachtsnotar. Bettina Kerwien
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Horst Lustenberger, der zweite Mann meiner Mutter, ist ein verdienstvolles Mitglied des Deutschen Bundestages. Niemand außer mir kann sich daran erinnern, dass er während des Berliner Bankenskandals im Jahr 1999 in die Parteikasse gegriffen hat. Ich hatte damals gerade ein Studentenpraktikum in der Parteizentrale absolviert, weil der Horst ja etwas für mich tun wollte. Schlechtes Timing.
Während des Praktikums teilte mich der Justiziar zur Abteilung Haushalt und Finanzen ein, da herrschte nämlich Personalnot. Also saß ich da, Wilhelmstraße 60, Zimmer 006, und sortierte Belege. Im Nebenzimmer saß der oberste Buchhalter der Fraktion, der Büroleiter. Das war seit sechzehn Jahren ein gewisser Mister Unauffällig in Person. Morgens sah ich ihn ins Büro huschen und abends wieder raus.
Als es schließlich losging mit dem Skandal, riefen zuerst Parteikollegen an. Dann die Innenrevision. Und zum Schluss nur noch Journalisten. 1,5 Millionen Mark waren auf schwarzen Kohl-Konten aufgetaucht. Irgendwann ging ich nicht mehr ans Telefon. Und am nächsten Morgen hängte sich der unauffällige Herr am Heizungsrohr auf. Seither bin ich durch mit der Politikerbagage im Allgemeinen und dem Horst im Besonderen.
Denn als Horst Lustenberger mit seiner Saftgulasch-Attitüde und seinem klebrigen Geld in mein Leben trat, war es zu spät – ich war schon sechzehn. Meine Mutter und ich zogen zu ihm, Beletage im Altbau am Spreeufer, KPM-Geschirr, handgenähte Bettwäsche, Gardinensteif, Kristalllüster, ständig roch es nach Bratensoße. Plötzlich saß ich jeden Abend um sieben mit dem Horst am Tisch. Meine Mutter und er glutzerten sich über die Kunstblumen hinweg so pubertär an, dass sogar die Rinderbrust auf den Bandnudeln rot wurde. Mit bebenden Nasenflügeln gestand der Horst beim Sonntagsfrühstück, was er sich vom Leben noch wünsche: »Wenn ich dich adoptieren würde, Libby, dann wären wir doch eine richtige Familie.«
Was natürlich ausgeschlossen war. Ich lass mich doch nicht von einem etablierten Presssack adoptieren. Und erst recht nicht, wenn der das will. Da merkte ich dann, wie mir plötzlich zwischen weichem Ei und Kuchenbrötchen ein Rückgrat wuchs. »Sorry, Horst«, sagte ich, »nichts gegen dich, aber ich will einfach nicht Liberty Lustenberger heißen. Das bin ich irgendwie nicht.«
Das hat so was Deterministisches, wie Lolo Ferrari. Ich heiß lieber wie mein richtiger Vater, Vale wie in vale of tears, Tal der Tränen. Eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, denn der Horst nahm die Absage natürlich trotzdem persönlich. Wir stritten nicht direkt, aber er wurde so ruhig wie ein Rumpsteak nach dem Abbraten, und meine Mutter schluchzte ins Zwiebelgehackte. Fünf Jahre später adoptierten die beiden Wanja und versuchten ihr Erziehungsglück bei ihr.
Jedenfalls, als ich den Horst damit konfrontierte, dass er bei den Schwarzkonten seine Finger im Honigtöpfchen hatte, da sagte er: »Na, wenn das so schlimm ist, dann wirst du ja auch keine finanzielle Unterstützung mehr von mir haben wollen.«
Wollte ich nicht. Danke, Horst Lustenberger. Du hast es mir ermöglicht, als Flugbegleiterin die Welt zu sehen. London, Rio, Tokio. Kein schlechtes Leben. Aber es fehlte ein bisschen an Substanz.
Ich bewerb mich für einen Studienplatz im Herbstsemester. Dann geh ich die Brümmerstraße runter zum U-Bahnhof Thielplatz. Studieren war ja schon immer Frustrationstoleranztraining. Aber hey, Schuldrecht zweites Semester: Auch seine Seele kann man nur einmal abtreten. Dann doch lieber gewinnbringend. Liberty Vale. Rechtsanwältin. Fachanwältin für Strafrecht. Ich seh schon den Gesichtsausdruck von Horst vor mir, wenn ich die Visitenkarte vor ihm auf den Tisch knall. Und jetzt brauch ich dringend was zu trinken.
Reinickendorf steht auf
Das ist neu und sensationell: Ein Bürgerantrag hat es bis in die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Reinickendorf geschafft. Sanders war noch nie auf der Sitzung einer BVV, aber man kann die Tagesordnung im Internet nachlesen: Jürgen Schrödter hat einen Milieuschutzantrag für die Siedlung Am Rabennest gestellt, und der soll öffentlich verhandelt werden.
Der BVV-Saal im Rathaus Reinickendorf ist ein erhabener Ort, er könnte auch das Seitenschiff eines Doms sein. Ein bedeutungsschwerer Kuppelsaal mit blau-goldenem Lilienmuster an einer Decke, von der Messinglüster hängen. Bemalte Bleiglasfenster und eine Art steinerner Thron geben dem Ensemble die Atmosphäre eines mittelalterlichen Saals. Der Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung Arthur Drohbeck, ein gedrungener Mittvierziger ohne Hals, mit schwarzer Fönfrisur und hellblauer Seidenkrawatte hat rote Flecke im Gesicht. Er hält sich an seinem Aktenordner fest. Die Knöchel seiner schmalen gelben Hände sind weiß. Neben ihm sitzt der blonde Peer Mann vom Bauausschuss und trommelt mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand den Radetzkymarsch. Die Politiker sind nervös.
Sanders nimmt auf einer Holzbank im Besucherbereich des Saals Platz. Die Sanierungsgesellschaft hat einen Aufstand der Anständigen ausgelöst. Hinter Sanders stehen die Unterstützer der Am-Rabennest-Siedler bis auf den Flur.
Etwa 25 Wutbürger und Wutbürgerinnen sitzen in den Besucherbänken: alle sechzig plus, mit Kittelschürzen, taubenblauen Gabardinehosen und geballten Fäusten. Die Mistforken hat ihnen die Polizei am Eingang abgenommen. Manche tragen schwarze T-Shirts, auf denen vorne Siedlung Am Rabennest steht und hinten Kein Ort für Luxus, daneben ein gesenkter Daumen.
Sanders fremdelt. Er fühlt sich an das Gemälde American Gothic von Grant Wood erinnert. Es ist diese Ernsthaftigkeit in der Übellaune, die die Frage offenlässt, ob es sich bei den Siedlern um komische Figuren oder Heilige handelt. Schon das Wort Wutbürger trägt eine Wahrheit in sich, nämlich die, dass die Ungerechtigkeit zu groß geworden ist. Das ist der Politik so durchgerutscht. Schraube überdreht, und schon handeln konservative, bessergestellte ältere Bürger oft gar nicht mehr bürgerlich. Das Staatstragende in ihnen hat sich in einen anarchischen Protestwillen verwandelt. Die Angst um ihre Welt ist so groß geworden, dass ihnen jegliche altersgemäße Zukunftsvergessenheit abhandengekommen ist. Ihre Verbitterung lässt die Luft im BVV-Saal vibrieren.
Es ist leicht, Jürgen Schrödter unter den Siedlern auszumachen. Er ist ein kantiger, bodenständiger Typ, Schlossermeister, frisch verrentet, breite Schultern, hochgewachsen, das graublonde Haar akkurat zurückgegelt wie Lex Barker, ein Kinn wie ein Amboss, glatt rasiert, die Augen sind hell und hart. Schrödter ist im Rabennest geboren, seine Frau vor zwei Jahren verstorben. Sein Vater, 83, genannt Opa Schrödter, lebt auch noch dort. Aus Sicht der Investoren blockieren diese beiden nichtswürdigen Existenzen gleich zwei Siedlungshäuser an quartierplanungsmäßig wichtiger Stelle, nämlich dort, wo sich die beiden Straßen der Siedlung kreuzen: Ecke Am Rabennest/Auf den Palisaden. Vor dem Haus der Schrödters befindet sich ein kleiner Platz voller Unkraut, auf dem ein Müllhäuschen steht. Die Bestandsmieter um Schrödter haben den Platz »Klassenkampfplatz« getauft. An dem Müllhäuschen hängt ein entsprechendes Pappschild. Glaubt man den geschönten Animationen des Investors, die im Internet zu finden sind, soll dort bald eine geschniegelte Hecke eine Sandsteinputte einfassen. Sanders zweifelt daran, dass es Pläne gibt, das Pappschild durch eine marmorne Gedenktafel für Schrödter zu ersetzen. Obwohl das hübsch wäre.
Schrödter ist der Magnetpol, auf den sich die Aufmerksamkeit der BVV wie eine Stahlnadel ausrichtet. Er trägt einen akzeptablen Anzug, hat eine Mappe mit Unterlagen in der Hand und redet ruhig und fokussiert mit seinen Nachbarn.
Die restlichen Politiker der Fraktionen betreten den Saal, nehmen auf ihren mit rotem Leder bezogenen Stühlen vor dem BVV-Vorsteher Platz. Während der Bürgersprechstunde und der sich anschließenden Fragen der Fraktionen beobachtet Sanders mit investigativem Interesse den Becher mit dünnem Automatenkaffee, den er sich auf dem Flur gezogen hat und auf dessen umbragrauer Oberfläche ein paar schillernde Blasen treiben. Das Ganze könnten