Niccoló und die drei Schönen. Gunter Preuß
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Niccolò ging nach vorn, verschränkte die Hände auf dem Rücken und sah in Donnerhalls kummervolles Gesicht. Darin war alles zu klein geraten und irgendwie starr, nur die hellen Augen wirkten lebendig. Sie huschten hin und her, nichts entging ihnen. Der Lehrer konnte anscheinend – wie manche Insekten – ohne den Kopf zu drehen in alle Richtungen sehen. Seine Hände fuhren über den kahl rasierten Schädel, als hätten sie eine schwer zu bändigende Haarfülle zu ordnen.
„Ich höre und höre, und ich höre immer noch“, sagte Donnerhall.
Niccolò wollte nur schnell auf seinen Platz zurück und den Hypnoseversuch fortsetzen. Eigentlich musste man dabei seinem Gegenüber in die Augen gucken. Aber Niccolò meinte, wenn er sich nur genügend konzentrierte, würde sein Blick auch durch Paulas Hinterkopf dringen.
Ole war von seinem Platz aufgestanden und gab ihm Flaggenzeichen, als wollte er ein Schiff davor bewahren, auf einen Eisberg aufzulaufen. Auch die anderen Mitschüler bemühten sich mit Grimassen, ihm anzuzeigen, was Donnerhall von ihm verlangt hatte.
Da sah Niccolò in Paula Klettes aufblitzende Brillengläser und begann wie auf Zuruf, ein Lied vorzusingen, das die Klasse auswendig lernen sollte. Es gehörte zu Donnerhalls Spezialitäten, seine Schüler Lieder aus dem Gesangbuch für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen lernen zu lassen. An jedem Montagmorgen musste die Klasse zu Beginn des Unterrichts ein neues Lied singen, wobei Donnerhall mit zuckenden Armen und artistischen Körperverrenkungen den Chor dirigierte. Bis zur Mittagspause hatten die Schüler das Lied modernisiert und rappten es ins Englische übersetzt auf dem Schulhof.
Niccolò sang für sein Leben gern. Seine Stimme war noch mädchenhaft hoch und doch schon männlich kräftig. Wenn er vorsang, hörten seine Mitschüler, die nur allzu gern über „Donnerhalls Musikantenstadel“ spotteten, gern zu. Der Lehrer bewegte sich nach kurzer innerer Gegenwehr zu Niccolòs Gesang wie eine Schlangentänzerin.
„Lasset uns mit Jesus ziehen,
seinem Vorbild folgen nach,
in der Welt der Welt entfliehen
auf der Bahn, die er uns brach,
immerfort zum Himmel reisen,
irdisch noch schon himmlisch sein,
glauben recht und leben rein,
in der Lieb den Glauben weisen.
Treuer Jesus, bleib bei mir,
gehe vor, ich folge dir.“
Als Niccolò endete, war es sekundenlang still. Donnerhall legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte bewegt: „Danke.“ Die anderen klatschten, trampelten und pfiffen, bis der Lehrer ihnen energisch Ruhe gebot.
Niccolò setzte sich auf seinen Platz zurück und drückte Oles Hand.
„Du singst wie Robbie Williams, Alter“, lobte Ole. „Du wirst bestimmt mal ein Superstar. Ich werde dann dein Manager. Ist das okay so?“
Niccolò konzentrierte sich wieder auf die Hypnose von Paula Klette. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis sie sich umdrehen und ihn lachend ansehen würde. Ihre Schultern zuckten immer stärker, ihr Kopf nickte, drehte sich nach links und rechts ...
Nun aber musste sie sich endlich umdrehen und Niccolò ansehen – da ertönte der Pausengong und Paula Klette stürmte mit den anderen aus dem Klassenzimmer.
4.
Auch in den folgenden Unterrichtsstunden war es Niccolò nicht gelungen, seine Hypnoseversuche zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Entweder war sein Blick zu schwach, um Paulas Hinterkopf bis zu den Augen zu durchdringen, oder aber er ließ sich zu sehr von seinen Kopfschmerzen, Oles Geflüster und Donnerhalls Getöne ablenken.
Niccolò nahm sich vor, in der Hofpause Paula direkt in die Augen zu blicken. Bei dem Durcheinander und Geschrei im Speiseraum hatte das keinen Sinn. Hier musste man aufpassen, dass man überhaupt am Leben blieb. Aber dann würde er seine Chance nutzen.
Um die drei Rosskastanien, die zwischen ihren grünfingerigen Blättern harzige Knospen austrieben, gruppierten sich Schüler der verschiedenen Altersklassen.
Die „Pampers“, zu denen die Mädchen und Jungen der ersten bis vierten Klasse gehörten, haschten einander um den kleinsten Baum. Die Grundschule und der Hort waren neben dem Gymnasium in einem Flachbau untergebracht. Obwohl ein Drahtzaun die Kleinen von den Älteren trennte, fanden sie immer wieder ein Loch, um durchzuschlüpfen. Die älteren Schüler duldeten sie schließlich wie lästige Insekten, die man zwar für kurze Zeit verscheuchen, aber doch nicht für immer vertreiben kann.
Die mächtigste Kastanie, die den Mittelpunkt des Schulhofes bildete und in deren Stamm Herzen und Liebesschwüre eingekerbt waren, wurde von den „Eierköppen“ besetzt, zu denen man sich ab dem Besuch der zehnten Klasse rechnen durfte. Die Eierköppe wiederum bestanden aus drei Untergruppen. Die größte bildeten die „Neutralen“, die sich aus allem heraushielten und nach guten Zensuren strebten. Dann folgten die „Godzillas“, eben Godzilla mit seiner Anhängerschar. Und in der dritten Gruppe waren die „Glatzen“ vereint, rechte Skins, Faschos eben, die nicht alle wirklich eine Glatze hatten. Sie waren eine Hand voll Jungen und Mädchen, die von Josef aus der Elften kommandiert wurden. Der Junge war groß und durchtrainiert, die meisten Mädchen schwärmten von ihm. Aber die Jungen fürchteten seine kalte Freundlichkeit noch mehr als Godzillas tapsige Kraftmeierei.
Um den dritten Baum schließlich scharten sich die „Halben Pfunde“, die sich aus den Klassen fünf bis sieben zusammensetzten.
Die Jungen und Mädchen aus der Achten und Neunten, die „Hauspflaumen“, lehnten am rechten Ende des Schulgebäudes an der Hauswand, wo um die Mittagszeit die Sonne für ein paar Minuten wärmte.
Am Zaun zur Hauptstraße liefen die „Bolschewiken“ auf und ab. Es waren zwei Mädchen und drei Jungen, deren Familien – wie Donnerhall erzählt hatte – im siebzehnten Jahrhundert mit anderen Deutschen von der russischen Zarin Katharina II. an der Wolga angesiedelt wurden. Im Zweiten Weltkrieg hatte Stalin sie nach Zentralasien verbannt. Nun waren sie nach Deutschland zurückgekehrt und konnten sich einfach nicht an ihre neue Heimat gewöhnen.
Niccolò und Ole standen nebeneinander bei den Hauspflaumen. Ole, der nicht nur wie Burattinos älterer Bruder aussah, sondern auch so phantastisch lügen konnte, sagte: „Die Eierköppe wollen unbedingt, dass ich zu ihnen gehöre. Was soll der gute alte Onkel Ole auch noch bei den Halben Portionen oder den Hauspflaumen? Ich war ja schon erwachsen, als ich noch unter den Pampers herumhüpfte.“
Während Niccolò nach Paula ausschaute, die sich ungewöhnlich lange im Speiseraum aufhielt, schaute Ole sehnsüchtig zu den Eierköppen, wo Godzilla und Loreley eng umschlungen vor und zurück wippten. Godzilla nahm einen Zug aus der Zigarette, schob sie dann Loreley zwischen die Lippen, die daran sog, dass der Tabak aufglühte.
„Ich möchte meine Nase drauf wetten, dass die beiden Hasch kiffen“, sagte Ole abgestoßen und doch bewundernd. „So ein Riesendino, der Godzilla!“
Niccolò entzog sich Oles rüttelndem Griff. Paula hatte den Schulhof betreten. Sein Blick huschte zwischen den drei Schönen hin und her. Frau Mandelstern hatte Hofaufsicht. Sie wurde von den Pampers beschäftigt und musste die Kleinen trennen, von denen ein