Offen gesagt. Tassilo Wallentin
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3. Das Wegbrechen der Werte, insbesondere der christlichen fundierten Werte, von denen sich Europa nicht gänzlich lösen kann, ohne zu zerfallen. Diese Erosion hat politische Gründe, aber auch solche der Migration aus nicht-europäischen Ländern, die EU-weit längst das Ausmaß einer Völkerwanderung erreicht hat. All das gefährdet den Grundkonsens oder kleinsten gemeinsamen Nenner, der durch immer neue Gesetze ersetzt werden muss.
Beginnen wir mit dem Selbstverständnis der EU: Ich persönlich hatte mir in meiner publizistischen Tätigkeit vorgenommen, nicht ständig über die EU zu schreiben. Mittlerweile musste ich lernen, dass es geradezu unmöglich ist, nicht über die EU zu schreiben. 90 % unserer Gesetze werden in Brüssel gemacht.
Es gibt kaum eine gesetzliche Regelung, für deren Inhalt die EU nicht verantwortlich ist. Das wird in den kommenden Jahren noch viel ausgeprägter der Fall sein. Denn die EZB hat in einem neuen Selbstverständnis nicht nur die Geldpolitik, sondern nunmehr auch die Fiskalpolitik übernommen. Erst vor ein paar Monaten verkündete EZB-Chef Draghi vor der versammelten Presse, dass die EZB für die nächsten zwei Jahre Wertpapierankäufe von 1.400 Milliarden Euro tätigen wird, wobei auch Ramsch und Schrottpapiere der Banken, Schulden der Krisenländer und faule Kredite gekauft werden sollen.
Aufgrund dieser Beschlussfassung der EZB und der Anmaßung, zur Eurorettung nun auch eigenmächtig Fiskalpolitik zu betreiben – eine Anmaßung, die übrigens weit über das hinaus geht, was die EZB nach dem Vertrag von Maastricht überhaupt darf – wird es in Zukunft bedeutungslos sein, ob wir in Österreich Strukturreformen durchführen, Sparpakete schnüren oder Steuern senken oder gar wer die Wahlen gewinnt. Denn kein innerstaatliches Programm kann diese neue Form der Umverteilung und Geldvernichtung ausgleichen. Alleine in Deutschland hat die Niedrig-Zins-Politik der EZB in einem Jahr 39 Milliarden Euro an Sparvermögen vernichtet. In unserem Nachbarland gibt es daher massive Widerstände gegen das neue Selbstverständnis der EZB, von unserer Bundesregierung hört man hingegen nichts.
Wie Sie allein daran ersehen können, ist vom ursprünglichen Selbstverständnis der EU, frei reisen, kaufen, verkaufen, investieren, studieren und sich frei bewegen können, nicht mehr viel vorhanden. Brüssel hat sich zu einer Hochregulierungszone entwickelt. Mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das darin bestand, dass Güter, die in einem Mitgliedstaat unter den dortigen Vorschriften hergestellt werden, grundsätzlich in der gesamten EU verkauft werden dürfen, hat das alles nichts mehr zu tun. Die Folgen sind die Vereinheitlichung und die Behinderung der wirtschaftlichen Dynamik und die Behinderung der Schaffung von Arbeitsplätzen. Mit einem Wort: Gesetzesflut und Überregulierung.
Ein Brandbeschleuniger dahin war die Eurokrise. In dieser hat man die Nichtbeistands-Klausel (auch No-Bailout-Klausel) in Art. 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU außer Kraft gesetzt, weil man einen Dominoeffekt und ein Übergreifen der Krise auf benachbarte Volkswirtschaften fürchtete. Es kam zu Schuldenerlässen, Rettungsschirmen und Bankenrettungen. Plötzlich haftete ein Mitgliedsland für die Schulden eines anderen. „Too big, too fail“ lautete der Schreckensruf. Die entscheidenden Industrienationen ließen sich von der Drohung eines Staatsbankrotts Griechenlands faktisch erpressen und stimmten dem Aufbau der Schuldenunion zu. Damit entließ man die Staaten aus der Selbstverantwortung und begab sich auf den Weg des Einheitsstaates, den man seither mit aller Vehemenz verfolgt, weil eine Umkehr politisch nicht mehr durchsetzbar erscheint. Dazu müsste die Konjunkturlokomotive Deutschland einen Alleingang machen und die Notbremse ziehen, was nicht zu erwarten ist, wenn man sich die Zusammensetzung der neuen Kommission und der EZB ansieht.
1.011 Verordnungen, 388 Änderungsverordnungen, 14 Richtlinien, 64 Änderungsrichtlinien – und das alles in einem Jahr. Dass die Überregulierung nicht meine Erfindung oder Einbildung ist, zeigt nicht nur diese Flut an Gesetzesbestimmungen, sondern auch die Tatsache, dass die EU-Kommission offiziell beschlossen hat, künftig Gesetze auf deren Notwendigkeit hin zu überprüfen. Mit ihrem am 2. Oktober 2013 in Brüssel vorgestellten „Fitnessprogramm“ für die Verwaltung wollte die EU unnötige Regeln ersatzlos streichen. Komplizierte Vorgaben sollten einfacher und neue künftig bereits vor der Verabschiedung darauf geprüft werden, ob sie tatsächlich notwendig sind. Ich halte das für reine Kosmetik und PR und bezweifle, dass das je zu einem Ergebnis führen wird, denn die gesamte Entwicklung und Ausrichtung der EU steuert auf die Vereinheitlichung durch Überreglementierung zu. Fitnessprogramm für die Verwaltung hin oder her; neben dem fehlenden politischen Willen zur Selbstbestimmung einzelner EU-Länder wurden die rechtlichen Voraussetzungen für die Überregulierung gerade erst geschaffen:
Beispielsweise mit dem Vertrag von Lissabon, der im künftigen Gesetzeswerdungsprozess Mehrheitsprinzipien verankerte und gemeinsam mit der neuen Rolle des Europäischen Parlaments ein einheitliches EU-Staatsvolk unterstellt, das es nicht gibt. Dieser Vertrag reformierte den Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag). Das deutsche Bundesverfassungsgericht stellte 2009 in einer sehr negativen Stellungnahme zum Vertrag von Lissabon fest, dass das Europäische Parlament nicht „hinreichend gerüstet“ ist, um „repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen zu treffen“, so lange kein „einheitliches europäisches Volk“ existiert. Mit anderen Worten: Derzeit hat das Europäische Parlament laut dem Bundesverfassungsgericht nicht die Legitimität, per Mehrheitsdiktat die Österreicher zum Beispiel zur Zulassung der Atomenergie zu zwingen. Derartiges passiert aber, weshalb es weiterhin zur Vereinheitlichung und Überregulierung kommt.
Hinzu tritt noch ein weiteres Problem, das die Überregulierung erst wirklich anheizt. Die Einzelinteressen der Lobbyisten, die immer neue Gesetze und Ausnahmebestimmungen für ihre Auftraggeber erwirken und ihre Sonderwünsche in neuen Gesetzen und Ausnahmen zu den Gesetzen festgelegt sehen wollen. Das führt zu einem gigantischen Anwachsen der Gesetzestexte und Verordnungen. In Brüssel agieren derzeit geschätzte 20.000 Lobbyisten, das sind etwa 30 Lobbyisten pro EU-Abgeordneten. Die genaue Zahl steht nicht fest, da es sich hier nur um die offiziell registrierten handelt. In der Praxis erarbeitet und formuliert werden die Gesetze von den 32.000 EU-Kommissionsbeamten. Zu Tausenden treffen, manipulieren und beeinflussen Lobbyisten diese Beamten und damit die Gesetze Europas. In die Arbeitsweise in Brüssel gab jüngst die holländische PR-Agentur Schuttelaar & Partners Einblick: „Wir sind häufig bei der Kommission, das ist unsere erste Anlaufstelle. Die Experten, die sich mit einem Dossier beschäftigen, die sind die Eintrittspforte.“ Die Beamten schätzten die Treffen sehr, sagt van’t Veld, Strategie Senior Consultant der Agentur, auch bekämen sie gerne konkrete Vorschläge, wie man ein Gesetz verbessern könne. „Wie alle Lobbyisten schreiben auch wir für unsere Kunden Vorschläge für Gesetzesänderungen oder -zusätze.“ Oft werden die auch in den endgültigen Text übernommen: „Dann könnte man tatsächlich sagen, Berater schreiben Teile der Gesetze.“
Allein die Finanzindustrie gibt jährlich 120 Millionen Euro für Lobbying aus. Lobbyisten und PR-Agenturen schreiben ganze Textpassagen von Gesetzen. Das führt nicht nur zu einer Überregulierung, sondern auch zu einer gewaltigen Manipulation, deren Ausmaß erst unlängst von britischen Forschern der Oxford Universität unter Einsatz eines Text-Analyse-Programms nachgewiesen werden konnte. Ein entsprechender Bericht wurde im British Medical Journal veröffentlicht. Untersucht wurde die Entstehung der Tabak-Gesetze zwischen 2009 und 2014. Das von den Forschern verwendete Text-Analyse-Programm konnte aufzeigen, wie sich die Wortwahl in den Gesetzesentwürfen genau verändert hat. Ausgangslage war – wörtlich – dass bekannt ist, dass „die Tabakindustrie den wirtschaftlichen Nutzen über die Gesundheit der Konsumenten stellt“. Das Text-Erkennungssystem verfolgte die Frequenz von „Pro-Industrie-Worten“, wie etwa „Wirtschaft“ im Vergleich zu jenen des öffentlichen Interesses wie „Gesundheit“ oder „warnen“. Betrachtet wurde ein Textentwurf in drei Stadien seiner Entwicklung.