MIND. Daniel Siegel
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Sich auf das Gehirn im Kopf als Quelle des Geistes zu fokussieren, ist in unserem Leben sehr wichtig gewesen, um die Herausforderungen mentaler Gesundheit zu verstehen. Die Beobachtung beispielsweise von Menschen mit Schizophrenie oder bipolarer Störung, genauso bei jenen mit anderen ernsthaften psychiatrischen Leiden wie Autismus, angeborenen Funktionsstörungen, die von einem anders strukturierten Gehirn ausgehen, und eben nicht aufgrund von etwas, das Eltern verursacht haben, oder irgendwelcher Charakterschwächen einer Person, bedeutete eine entscheidende Veränderung der Sichtweise im Bereich mentaler Gesundheit, um nach effektiveren Hilfsmitteln für bedürftige Menschen und Familien zu suchen.
Sich dem Gehirn zuzuwenden, hat uns befähigt, die Scham und die Schuldzuweisung von Personen und ihren Familien zu verringern, ein trauriger- und unglücklicherweise allzu verbreiteter und dabei nicht sehr lange zurückliegender Aspekt in den Begegnungen mit Ärzten. Auch konnte vielen Individuen mit psychiatrischer Medikation geholfen werden, da Moleküle als verantwortliche Akteure der Gehirnaktivität angesehen wurden. Ich sage „angesehen“ aufgrund der Entdeckung, dass der mentale Glaube einer Person ein gleichermaßen mächtiger Faktor in einigen als Placebo-Effekt bekannten Fällen sein kann. Bei einem Prozentsatz von Individuen mit bestimmten Leiden, haben ihre Glaubensinhalte zu messbaren Verbesserungen im äußeren Verhalten und auch in der Gehirnfunktion geführt. Und wenn wir uns daran erinnern, dass auch der Geist das Gehirn verändern kann, sollte sich damit ein Verständnis verbinden, dass den Geist zu trainieren für einige Individuen hilfreich sein könnte, (sogar angesichts von Abweichungen im Gehirn).
Weitere Unterstützung erfährt diese gehirnzentrierte Sichtweise des Geistes aufgrund von Studien an Individuen mit Läsionen bestimmter Hirnareale. Seit Jahrhunderten hat die Neurologie Kenntnis davon, dass spezifische Verletzungen in spezifischen Bereichen zu vorhersagbaren Veränderungen in den mentalen Prozessen wie Denken, Emotionen, Gedächtnis, Sprache und Verhalten führen. Den Geist als verbunden mit dem Gehirn zu sehen war äußerst hilfreich, sogar lebensrettend für viele Menschen im Laufe des letzten Jahrhunderts. Den Fokus auf das Gehirn und seinen Einfluss auf den Geist zu legen war ein wichtiger Beitrag, unser Verständnis und unsere Eingriffe zu fördern.
Doch diese Entdeckungen bedeuten weder im logischen noch im wissenschaftlichen Sinne, dass allein das Gehirn den Geist erschafft, wie oftmals behauptet wird. Gehirn und Geist könnten in der Tat das Gleiche sein. Beide könnten sich wechselseitig beeinflussen, wie die Wissenschaft quantitativ zu enthüllen beginnt, z. B. in Studien über den Einfluss mentalen Trainings auf die Gehirnfunktion und -struktur (Davidson & Begley, 2012). Mit anderen Worten, nur weil das Gehirn den Geist formt, bedeutet dies nicht, dass der Geist nicht das Gehirn formen kann. Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, einen Schritt von der vorherrschenden Sichtweise, dass „Geist Gehirnaktivität ist“, zurückzutreten und unseren Geist für ein größeres Bild zu öffnen.
Obwohl das Verständnis des Gehirnes wichtig für das Verständnis des Geistes ist, warum sollte der Geist – oder was immer auch erschafft oder verursacht oder konstituiert – auf das beschränkt sein, was oberhalb unserer Schultern vor sich geht? Diese vorherrschende Perspektive „Gehirnaktivität = Geist“, die der Philosoph Andy Clark ein „gehirngebundenes“ Modell nennt (2011, Seite XXV), kann auch als eine „einzig der Schädel“ oder als eine „eingeschädelte“ Sicht des Geistes bezeichnet werden, eine Sichtweise, die, wenngleich verbreitet, bestimmte Elemente unseres mentalen Lebens nicht in Betracht zieht. Eine davon ist die Tatsache, dass unsere mentalen Aktivitäten wie Emotionen, Gedanken und Erinnerungen unmittelbar vom Gesamtzustand unseres Körpers geformt, wenn nicht sogar gänzlich geschaffen werden. Dergestalt kann der Geist als verkörpert angesehen werden, und zwar nicht nur innerhalb des Schädels. Ein anderes grundlegendes Problem besteht darin, dass unsere Beziehungen zu anderen, zum sozialen Umfeld, in dem wir leben, unser mentales Leben direkt beeinflussen. Und auch hier bilden unsere Beziehungen unser mentales Leben, beeinflussen es nicht nur, sondern sind eine der Quellen seiner Ursprünge, nicht nur als etwas, das es formt, sondern das es entstehen lässt. Und auf diese Art und Weise kann der Geist sowohl als etwas Relationales wie Verkörpertes betrachtet werden.
Die Linguistikprofessorin Christina Erneling (Erneling & Johnson, 2005) bietet folgende Perspektive an:
Etwas Bedeutsames äußern zu lernen – das heißt, sich semantische Kommunikationsfertigkeiten anzueignen – besteht nicht nur darin, sich die spezifische Konfiguration spezifischer Gehirnprozesse anzueignen. Es umfasst desgleichen andere Menschen, die beachten, was man als ein Teil linguistischer Kommunikation sagt. Wenn ich Ihnen etwas verbal verspreche, spielt der Zustand meines Gehirnes keine Rolle. Wichtig ist vielmehr, dass mein Versprechen als solches von anderen Menschen aufgenommen wird. Dies hängt nicht nur von meinem oder Ihrem Verhalten und den Gehirnprozessen ab, sondern auch von einem sozialen Netzwerk aus Bedeutungen und Regeln. Typisch menschliche mentale Phänomene lediglich mit Begriffen des Gehirnes zu erklären gleicht dem Versuch, Tennis als Wettkampfspiel zu erklären, indem man sich auf die Ballistik bezieht… Über die Analyse mentaler Kapazitäten mit Begriffen individueller Ausführungen, Gehirnstrukturen oder der Rechenarchitektur hinaus, muss man das soziale Netzwerk, das sie ermöglicht, mit berücksichtigen. (S. 250)
So können wir zumindest sehen, dass jenseits des Kopfes, des Körpers und unserer relationalen Welt mehr existieren könnte als kontextuale Faktoren, die den Geist beeinflussen – sie könnten vielleicht fundamental für das sein, was der Geist ist. Mit anderen Worten, was immer Geist auch ist, das könnte seinen Ursprung in unserem ganzen Körper und unseren Beziehungen haben, und nicht darauf beschränkt sein, was sich zwischen unseren Ohren abspielt. Wäre es dann im wissenschaftlichen Sinne nicht vernünftig, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass das Gehirn mehr als bloße Gehirnaktivität ist? Könnten wir das Gehirn nicht als Teil eines anderen betrachten, als Teil eines breiteren Prozesses, der den Körper als Ganzes mit einbezieht, genauso wie unsere Beziehungen, aus denen der Geist entsteht? Könnte dies nicht eine komplettere, „vollständigere“ Sichtweise sein, als einfach zu behaupten, der Geist sei auf die Aktivität im Kopf beschränkt?
Obgleich der Geist mit Sicherheit in grundlegender Art und Weise mit dem Gehirn verbunden ist, könnte unser mentales Leben nicht auf das beschränkt sein oder bloß davon herrühren, was in unseren Schädeln allein vor sich geht. Könnte der Geist etwas mehr sein als einfach ein Ergebnis des Feuerns der Neuronen im Gehirn? Und wenn dieses breiter angelegte Bild sich als wahr herausstellt, was könnte dieses Etwas Mehr tatsächlich sein?
Unsere Identität und der interne und relationale Ursprung des Geistes
Wenn das, was wir sind – sowohl in unserer persönlichen Identität als auch in der wahrgenommenen Erfahrung des Lebens –, einem mentalen Prozess entspringt, ein mentales Produkt, eine Funktion des Geistes ist, dann sind wir das, was unser Geist ist. Auf unserer bevorstehenden Reise werden wir alles über den Geist erforschen – nicht nur das Wer, sondern auch das Was, Wo, Wann, Warum und Wie Ihres Geistes, des Geistes.
Wir beginnen mit folgender geteilter Sichtweise als Ausgangsposition: Der Geist wird von der Funktion des Gehirnes und seiner Struktur im Kopf geformt und ist vielleicht sogar völlig davon abhängig. Im Sinne eines Ausgangspunktes gibt es unsererseits nichts dagegen einzuwenden. Und so stimmen wir dem, was die Mehrheit der Geist-/Gehirnforscher behauptet, ganz und gar zu – und schlagen dann vor, den Begriff des Geistes über den Schädel hinaus auszudehnen. Das Gehirn im Sinne eines Kopf-Konzeptes ist bloß der Ausgangs- und nicht der Endpunkt unserer Forschungsreise. Wir könnten uns letztendlich dazu entscheiden, diesen Versuch angesichts einer breiteren Sichtweise, zu der wir gelangen, aufzugeben, und vielleicht