Ethik. Wilhelm Vossenkuhl
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Das Tötungsverbot hängt eng mit der Menschenwürde zusammen, ist aber ein eigener Grundanspruch.
Natürlich gilt dieses Tötungsverbot nicht unter allen Bedingungen. Zum Beispiel im Krieg. Soldaten unterliegen diesem Verbot nicht. Allerdings dürfen Soldaten nicht grausam töten, nicht mutwillig usw. Und natürlich, wenn das eigene Leben in Gefahr und die Abwehr des Angriffs nur durch die Tötung des Angreifers möglich ist – auch da ist töten erlaubt. Aber das ist eine schwierige Frage.
Kehren wir zurück zum ganz normalen Tötungsverbot, ein Verbot als sittliche Tatsache. Wenn Sie also jemand fragt: Was heißt das eigentlich? Dann können Sie nur antworten: Dieses Verbot gilt bei uns. Und wenn jemand nicht versteht, worin dieses Verbot besteht, weil er zum Beispiel denkt: Ich bin kräftig, vielleicht hab ich sogar eine Pistole oder ein Messer. Warum soll ich also nicht einen Menschen töten dürfen, der mir einfach auf die Nerven geht, nachts Lärm macht oder mich dumm anredet?
Wer das nicht versteht, weiß nicht, was diese Tatsache bedeutet. Kennt keine sittlichen Tatsachen. Normalerweise wissen wir aber – wir wissen es im genauen Sinne des Wortes Wissen, dass es verboten ist, Menschen zu töten und dieses Verbot verstehen wir. Wir behandeln es wie eine Tatsache.
Sittliche Tatsachen
Es gibt viele Arten von Tatsachen. Eine mit den ethischen oder sittlichen Tatsachen eng verwandte Menge von Tatsachen ist die, die wir in den Gesetzestexten finden. Wenn wir zum Beispiel an das Strafrecht in unserem Land denken, da werden viele Delikte als nicht nur verachtenswert sondern verurteilenswert betrachtet. Ein Tötungsdelikt und das, was für dieses Tötungsdelikt als Strafe angenommen wird, wird ebenfalls – so wie ich es gerade erklärte – wie eine Tatsache behandelt. Die „Tatsächlichkeit“ wird also in vielen Zusammenhängen vorausgesetzt, obwohl sie nicht dem entspricht was zum Beispiel die „Tatsächlichkeit“ eines Tisches ausmacht.
Nicht nur das, was wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen können, sind Tatsachen, sondern auch das, was wir Menschen als Regeln unseres Umganges, als Grundlagen unseres sittlichen Urteilens anerkennen.
Es ist also zu merken und man muss sich das, wenn man ethisch argumentiert, wirklich vor Augen führen, wann immer man vor einem Problem steht: Es gibt sittliche Tatsachen, auf die wir Bezug nehmen, deren Geltung nicht ableitbar ist. Wenn wir argumentieren wollen, dann nur, wenn wir diese Grundlagen auch akzeptieren. Wenn wir das nicht tun, nützen die schönsten Argumente nichts.
Wer zum Beispiel das Tötungsverbot nicht anerkennt, der mag vielleicht hochintelligent sein und sich wunderbar in der Literatur auskennen und in der Lage sein, alle möglichen schönen Argumente zu entwickeln, aber diese werden nicht viel taugen. Es fehlt ihnen das, was man „das Salz in der Suppe“ nennt. Es fehlt der eigentliche Kern der Argumentation. Dann mögen die Argumente noch so schön, so barock und beeindruckend sein, sie führen zu nichts. Sie führen zu keinem Ergebnis.
Rechtfertigungsprozesse sind aber nur deswegen, weil es Geltungsgrundlagen gibt, die nicht abgeleitet werden können, nicht weniger wichtig – nein. Das große Geschäft der Ethik ist der Rechtfertigungsprozess. Wir werden Beispiele kennenlernen, wo man sieht, dass Geltungsgrundlagen – so wie die Menschenwürde – in einer Gesellschaft wirklich anerkannt sind, wo wir aber feststellen müssen, dass die Anerkennung eigentlich keine Berechtigung hat.
Sie werden jetzt wahrscheinlich staunend fragen: Wie ist das möglich? Geltungsgrundlagen, die unabgeleitet sind, die aber dann doch nicht anerkennenswert sind? Wir werden solche Fragen zu stellen haben. Das heißt: Nicht alles was uns über die Sitte, über Religionen, über unsere Kultur an Geltungsgrundlagen tradiert, mitgegeben wurde, ist auch ethisch in jedem Fall in Ordnung. Da gibt es Probleme. Es kann Probleme geben. Wir brauchen da nicht nur an Problembereiche wie dem „Islamismus“ denken. Wir können diese Probleme auch zu Hause feststellen und dingfest machen.
Aber zunächst einmal muss man sich einfach nur darüber klar sein, dass es Geltungsgrundlagen gibt, die wie sittliche Tatsachen zu verstehen sind. Ohne sie taugen die wunderbarsten Theorien oder Argumentationen nicht wirklich und führen zu keinem Ergebnis.
Selbstbestimmung
Ich habe erklärt was sittliche oder normative Tatsachen sind. Eine dieser Tatsachen ist uns heute sehr wertvoll geworden, nämlich die Selbstbestimmung. Sie ist ein typisches Produkt der letzten 200 Jahre. Nicht, dass die Menschen davor auch schon Interessen dieser Art gehabt hätten, nämlich das zu tun was sie selber wollen. Aber Selbstbestimmung als gesetzlich geschützter, ja sogar staatsrechtlich geschützter Anspruch hatte es in der Vergangenheit nicht gegeben. Das ist etwas ganz modernes.
Dieser Anspruch auf Selbstbestimmung spielt in einem Bereich eine Rolle der ethisch sehr brisant ist, nämlich in der Medizinethik. Ich sprach schon vom Tötungsverbot. Was haben Selbstbestimmung und Tötungsverbot miteinander zu tun? Scheinbar gar nichts. Und doch: Stellen Sie sich vor, eine Person, vielleicht sogar jemand, den Sie gut kennen, ist sterbenskrank, leidet sehr stark, hat starke Schmerzen. Die Ärztinnen und Ärzte, die sich um sie oder ihn kümmern, haben keine große Hoffnung mehr. Nun gibt es heute – gottseidank – die Palliativmedizin, die Menschen hilft, würdig und ohne Schmerzen zu sterben – so gut es jedenfalls geht.
Aber wie ist es, wenn eine Patientin oder ein Patient seine
Schmerzen, seinen Zustand einfach nicht mehr aushält und sterben will? Da haben wir schon den Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Tötungsverbot. Die Frage ist: Darf dieser Patient getötet werden, wenn er es will?
Man könnte sagen, im Rahmen der Selbstbestimmung ist nichts normaler als das. Es ist ein extremer Wunsch – zugegeben, aber es ist doch auch eine Frage der Selbstbestimmung. Kann ich denn nicht über meinen eigenen Tod entscheiden? Natürlich kann ich das. Wenn ich mich selbst töte, gibt es dagegen keine rechtlichen Einwände. Es ist kein strafbarer Tatbestand. Früher war das einmal anders. Aber wie ist es, wenn dieser Patient sich nun nicht selbst töten kann, also nicht Suizid begehen kann, sondern dabei Hilfe braucht. Dürfen Ärzte ihm dabei helfen?
Ein heute außerordentlich umstrittenes Problem. Wir haben zwei unableitbare, grundlegende Forderungen die hier miteinander in Konflikt geraten, nämlich das Selbstbestimmungsrecht auf der einen Seite und das Tötungsverbot auf der anderen. Das Selbstbestimmungsrecht betrifft natürlich diesen Patienten und das Tötungsverbot betrifft nicht den Patienten, sondern die Ärzte oder das Pflegepersonal und natürlich auch die Angehörigen.
Wie ist dieses Problem also zu lösen? Nun, die Selbstbestimmung hat bei uns in der Bundesrepublik Deutschland eine Grenze, dort, wo man vom „Töten auf Verlangen“ sprechen kann. Der Patient kann zwar verlangen, durch eine Spritze oder durch ein Medikament getötet zu werden, aber die Ärzte dürfen ihm dabei nicht helfen.
Ich werde gleich versuchen zu erklären, warum, aber zunächst einmal – um den Sachverhalt ethisch genauer zu beschreiben – noch einige Aspekte: Wenn sich der Patient selbst töten kann, dürfen ihm Ärzte dabei indirekt helfen. Sie dürfen ihn nicht töten, aber sie können ihm zum Beispiel Tabletten geben, die er selbst schluckt. Das ist erlaubt und dagegen gibt es auch keine rechtlichen Bedenken. Die Hilfe ist also möglich. Da es kein Straftatbestand ist, sich selbst zu töten, ist auch die Hilfe, die dabei geleistet wird, kein strafbarer Tatbestand.
Nun werden viele sagen: Aber wie ist es denn mit der Ethik? Ist es nicht ethisch doch umstritten oder vielleicht sogar verboten, einem Menschen, der wegen