Ethik. Wilhelm Vossenkuhl
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Ethik – eine „Konfliktwissenschaft“
Ethik ist eine „Konfliktwissenschaft“. Das wird ihnen wahrscheinlich schon an den Beispielen, die ich soeben vorgeführt habe, klar geworden sein. Aber Konfliktwissenschaft heißt mehr, als nur da und dort einmal einen Konflikt lösen. Das beginnt eigentlich schon an dem Punkt, wo sich die Ethik von der Sitte löst, von ihr entfernt, oder vielleicht sogar gegen sie stellt. Denn immer, wenn Ethik benötigt wird, geht es um Konflikte. Ganz einfache Konflikte. Was soll ich jetzt eigentlich machen? Soll ich dies machen oder jenes – oder soll ich überhaupt nichts machen? Ganz simple Fragen sind immer irgendwie konfliktbeladen.
Die Frage „Was soll ich tun?“ ist im ethischen Sinne eben doch nicht so leicht zu beantworten. Genau deshalb brauchen wir die Ethik, sonst hätten wir ja genug mit der Sitte. Sonst wüssten wir ja eigentlich immer Bescheid. Aber das tun wir eben nicht.
Warum nun „Konfliktwissenschaft“? Lange dachten die Philosophen, die sich mit Ethik beschäftigten, dass es in der Ethik eigentlich fast ausschließlich darum gehe, zu klären, was wir Menschen „sollen“. Also: Was ist „gutes Handeln“? Was ist der „gute Wille“? Was sollen wir tun? Was sollen wir lassen? Was dürfen wir? Und man meinte, wenn man diese Fragen abstrakt einigermaßen geklärt hat, dann ist die Aufgabe der Ethik erfüllt.
Das ist aber nicht einmal die Hälfte der Aufgabe, die sie hat. Vielleicht ist das noch untertrieben. Es geht nicht um diese doch eher abstrakten, theoretischen Fragen, sondern es geht um konkrete Probleme. Die Ethik lebt aus konkreten Problemen und das interessante oder auch problematische ist, dass die Probleme vom Leben erzeugt werden. Welches Leben meine ich? Nun, das Leben in dem wir alle irgendwie stehen. Ein Leben, in dem es z. B. Wissenschaft gibt.
Gleiche ethische Ansprüche für alle
Vor der Entwicklung der Transplantations-Medizin gab es natürlich kein ethisches Problem, das man als „Verteilung von Spenderorganen“ bezeichnen könnte – es war ja gar nicht möglich, zu transplantieren. Irgendwann in der Mitte der 60iger Jahre hat ein südafrikanischer Chirurg namens Christiaan Barnard damit angefangen.
Die erste Herztransplantation war ein ziemlicher Fehlschlag. Die nächste, einige Zeit später, war schon besser, vielversprechender. Man hat also Techniken entwickelt, man hat damals überhaupt angefangen zu verstehen, was Abstoßreaktionen – Immunreaktionen – sind und wie man sie unterdrücken kann. Denn das ist ganz wichtig, wenn man Organe transplantieren will. Aber wir wollen uns jetzt nicht in die Belange der Medizin einmischen…
Durch die Fähigkeit der Medizin, Organe zu transplantieren, trat plötzlich das Problem auf, wer sie denn nun bekommen soll. Es gibt Länder, Gesellschaften, in denen es zum
Beispiel genügend Spendernieren gibt für diejenigen, die dringend eine Niere brauchen. Eines dieser Länder kennen Sie alle. Es ist Österreich. Oder ein anderes ist Spanien. In diesen Ländern gibt es erstaunlicherweise genügend Organe. Vor allem Nieren, aber auch Herzen usw.
Warum? Nun, weil es dort eine Voraussetzung für die „Gewinnung“ – das Wort ist nicht so ganz passend, aber erlauben sie es mir – der Organe gibt, die anders aussieht als bei uns. Bei uns muss ein Spender oder eine Spenderin ausdrücklich erklären, dass er, wenn er verunfallt, als solcher in Frage kommt. In den eben erwähnten Ländern Österreich und Spanien herrscht das Verfahren der sogenannten „Widerspruchslösung“. Dieses Verfahren besteht darin das man jeden Verunfallten, der sich nicht gegen die Entnahme von Spenderorganen ausgesprochen hat, als Spender betrachtet. Wir haben hier also zwei verschiedene Verfahren, wie Spenderorgane gewonnen werden können.
Ethik als „Konfliktwissenschaft“ tritt dort auf den Plan, wo es darum geht, wie bei knappen Gütern, etwa bei knappen Organen und einer größeren Nachfrage als vorhandenen Spenderorganen, die Zuteilung gerecht vollzogen werden kann. Der ethische Anspruch ist eine gerechte Verteilung. Wie ist das möglich?
Man hat eine Praxis entwickelt, die relativ unumstritten ist, aber nicht in jeder Einzelheit ethisch durchleuchtet werden kann, weil es viele Fragezeigen gibt. Um die geht es aber nun im Einzelnen gar nicht, aber einige möchte ich doch nennen: Wir haben eine Praxis, wo wir zwei verschiedene Zuteilungsprinzipien mischen. Das eine Prinzip besteht darin, dass wir sagen: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Diejenigen, die sich auf einer Liste, der sogenannten „Warteliste“ eintragen, nachdem Ärzte festgestellt haben, dass sie dringend eine Niere brauchen, stehen auf dieser Liste und rücken so langsam nach. Ich muss vielleicht noch vorausschicken, dass in der Bundesrepublik pro Jahr etwa zwischen 800 und 900 Menschen sterben müssen, weil sie keine Spenderniere bekommen –abgesehen von anderen Organen, die dringend benötigt werden, Herzen, Lungen etc. „Knappheit“ ist ein abstraktes Wort für das, was da wirklich passiert: Menschen sterben. Wir haben also die Warteliste. Und dann haben wir auch noch ein ganz anderes Prinzip, das die Zuteilung gerecht regelt, nämlich die Dringlichkeit. Dringlichkeit und Warteliste – das sind zwei Zuteilungsprinzipien, die sich wie Feuer und Wasser vertragen.
Es genügt, wenn ich Ihnen ohne die technischen Details beschreibe, was ich da mit Feuer und Wasser meine: Dringlichkeit sticht immer. Wenn ein Patient ganz schwer erkrankt ist und ganz dringend eine neue Niere braucht, dann wird die Warteliste zurückgestellt. Diese Person bekommt das eine, verfügbare Organ. Aber ethisch gesehen muss man sich überlegen: Ist das denn gerecht? Was passiert eigentlich mit den Ansprüchen der anderen? Es kann ja sein, dass die Person, die ganz an der Spitze der Warteliste steht, vielleicht genau dadurch gefährdet ist. Aber das ist vielleicht nicht das primäre Problem, sondern das primäre Problem ist, dass alle Personen, die ein Organ benötigen, den gleichen ethischen Anspruch haben.
Natürlich sind die medizinischen Tatsachen nicht immer leicht mit dieser Gleichheit der Ansprüche in Übereinstimmung zu bringen. Aber wir müssen, wenn wir Ethik als „Konfliktwissenschaft“ betreiben, erst einmal überlegen: Was sind denn die Grundlagen der Ansprüche, um die es geht? Hier ist die entscheidende Grundlage, dass alle den gleichen Anspruch haben. Alle, die dringend ein Organ benötigen.
Sie sehen, es gibt dadurch Probleme, dass es medizinische Möglichkeiten gibt, Menschen zu helfen. Es will einem nicht so leicht in den Kopf, dass gerade die Möglichkeiten, die in der Medizin entwickelt werden, Menschen zu helfen, also ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, immer wieder auch Probleme erzeugen. Die gerechte Verteilung von Spenderorganen ist eines dieser Probleme. Es gibt viele andere. Man könnte jetzt beliebig tief in diese Problematik von Organspenden eintreten.
Es gibt nicht nur Organspenden, die von Toten für Lebendige gemacht werden, sondern auch von Lebenden für Lebende.
Nieren können zum Beispiel von Lebenden an Lebende übertragen werden. Es gibt also eine ganze Vielfalt von Möglichkeiten, Menschen, die eine Niere benötigen, zu helfen. Aber die ethischen Probleme sind ebenso vielfältig. Es ist nicht immer das gleiche Problem. Die „Lebendspende“ enthält eine ganze Reihe anderer Probleme als die sogenannte „post mortem“, also die Spende, die erst nach dem Tod des Spenders möglich ist. Welche?
Zunächst einmal sollen ja alle Spenden ohne ein wirtschaftliches Interesse angeboten werden. Das ist bei Patienten, die verstorben, verunfallt sind, kein Problem. Aber bei der Lebendspende ist es ein Problem. Es kann ja sein, dass jemand sein Organ verkaufen will oder dass jemand einen Vorteil erhält oder versprochen bekommen hat, wenn er ein Organ spendet.
Instrumentalisierungsverbot
Sie sehen: Hier kommt nun plötzlich