Ethik. Wilhelm Vossenkuhl
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Warum? Das hat mir der Frage zu tun, was Selbstbestimmung im Angesicht des Todes eigentlich genau bedeutet. Oder anders gefragt: Dürfen wir Menschen, die im Sterben liegen, mit der Verantwortung für das „getötet werden“ belasten?
Das klingt ein wenig wie „Wortklauberei“, aber tatsächlich ist es die genaue Beschreibung dessen, was ein Patient wünscht. Er möchte getötet werden. Wie zuverlässig ist dieser Wunsch? Dürfen wir ihn wörtlich nehmen? Wenn wir den Patienten gut kennen, werden wir wissen wie er das meint. Aber es ist doch so, dass starke Schmerzen – jeder, der einmal starke Zahnschmerzen hatte, weiß, was ich meine – unser Bewusstsein verändern. Wenn wir unter einem starken Schmerz stehen, ist unsere Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt. Vielleicht sogar erheblich eingeschränkt, das kommt auf die Art des Schmerzes an. Wenn das jedoch so ist, dann fehlt die Bedingung, unter der Selbstbestimmung ernstzunehmend und anerkennenswert ist. Selbstbestimmung ist nämlich genau dann nicht anerkennenswert, wenn sie unter einem Zwang steht. Sei es der Zwang von Schmerzen, sei es der Druck von anderen Menschen.
Sie sehen, dieses Problem ist gar nicht so einfach. Und es gibt auch gar keine generelle ethische Lösung für dieses Problem. Solange der Patient sich selbst die Tabletten geben kann, solange ist das Problem lösbar. Aber wenn er das nicht kann, zum Beispiel bei völlig gelähmten Menschen – sogenannten ALS-Patienten, dann ist das Problem sehr groß.
Wir haben gesehen, dass Selbstbestimmung ein Grundanspruch ist, der genau wie das Tötungsverbot unableitbar ist. Beide sind unableitbar, aber sie können in Konflikte miteinander treten.
In der früheren Fragestellung habe ich bereits darauf hingewiesen, dass das Verhältnis der Sitte zur Ethik problematisch werden kann. Es kann auch da Konflikte geben, ähnlich den Konflikt, den ich gerade beschrieben habe. Denken Sie doch einmal an die Frage der Menschenwürde und die Frage der Unableitbarkeit der sittlichen Grundlagen. Ich habe bereits erwähnt, dass nicht alle diese Grundlagen ethisch anerkennenswert sind.
Konflikte zwischen Sitte und Ethik
Ich möchte Ihnen jetzt ein Beispiel geben – zugegeben kein besonders schönes Beispiel. Ich glaube auch nicht, dass es da auch irgendwelche schönen Beispiele gäbe. Aber gut, das ist nun mal ein Beispiel und es ist nicht schön. Das Beispiel heißt „Frauenbeschneidung“.
Frauenbeschneidung, so könnte man sagen, ist eine sittliche Tatsache. Das ist sie in der Tat, eine sittliche Tatsache in einer ganzen Reihe von afrikanischen Gesellschaften. Übrigens nicht nur muslimische Gesellschaften, auch christliche. Auch in der christlichen, äthiopischen Gesellschaft gibt es diese Praxis.
„Frauenbeschneidung“ wird von Frauen an kleinen Mädchen vorgenommen. Die Genitalien werden meistens mit Scherben, Glas oder ähnlichen Instrumenten, die nicht hygienisch sind, beschnitten. Teile der Schamlippen werden entfernt. Diese Mädchen werden verstümmelt. Häufig überleben sie diesen Eingriff nicht.
Aber es geht nun nicht so sehr um diesen Eingriff selbst, sondern darum, was da eigentlich passiert. Was für eine sittliche Tatsache ist das und ist sie anerkennenswert? Zunächst einmal ist das eine sittliche Tatsache, die in Frage gestellt werden muss, obwohl – und das zeigen Umfragen – eine große Mehrheit der Frauen in diesen Gesellschaften sich für die „Frauenbeschneidung“ aussprechen, weil sie eine wesentliche Bedingung für die soziale Integration der Frauen in die Gesellschaft ist. Es handelt sich um Stammesgesellschaften, in denen Regeln gelten, die aus einer menschenrechtlichen Perspektive nur zum Teil anerkennenswert sind.
Das ist das Stichwort: Wir haben es hier mit einem Beispiel zu tun, das zwar eine sittliche Tatsache ist, aber in einem scharfen Konflikt, ja Widerspruch mit anderen sittlichen Tatsachen steht. Und zwar sittlichen Tatsachen, die weltweit Anerkennung finden und verdienen – nämlich die Menschenrechte. Auch das sind sittliche Tatsachen.
Wie sieht dieser Konflikt aus? Warum ist es überhaupt ein Konflikt?
Nun, was passiert denn bei der „Frauenbeschneidung“? Sie ist eine Verletzung des unableitbaren sittlichen Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit. Man nennt das mit dem Fremdwort „Integrität der Person“. Die Integrität der Person wird verletzt, körperlich und auch seelisch.
Es gibt Frauen, die darüber in Büchern berichten und man sieht, wenn man diese Bücher liest, sehr genau, was mit der „seelischen Verletzung“ gemeint ist. Ich brauche nicht ins Detail zu gehen. Sie werden sich das durch eigene Lektüre selbst verschaffen können.
Es geht um die Verletzung der Integrität, also die Verletzung eines grundlegenden Anspruchs der Menschen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen körperlich und seelisch verletzt werden. Und da es sich um Kinder handelt, wiegt diese Art von Verletzung sogar doppelt schwer, denn diese Kinder sind nicht „einwilligungsfähig“. Sie sind nicht in der Lage, sich selbst zu bestimmen und zu sagen: Ich will das, ich kenne die Risiken und so fort.
All das, was man zumindest intellektuell für diese menschenverachtende Praxis als entlastend anführen könnte, scheidet also aus. Es ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. An diesem Beispiel sieht man sehr deutlich, was passieren kann, wenn es sittliche Grundlagen gibt, sittliche Tatsachen, die gegen andere Tatsachen verstoßen. Da brauchen wir die Ethik. Denn die Ethik gibt uns das Instrumentarium an die Hand, zu entscheiden: Was ist nun eine schützenswerte, sittliche Tatsache? Welche Tatsache gilt es zu bewahren und welche nicht?
Trennung der Ethik von sittlichen Grundlagen
Es ist ein interessanter Prozess, der mit der Ablösung der Ethik von sittlichen Grundlagen zu tun hat. Die Ethik kann sich gegen bestimmte sittliche Grundlagen wenden. Indem sie zum Beispiel die Menschenrechte verteidigt. Indem sie den Anspruch der Menschenrechte gegen unmenschliche, in diesem Fall wirklich verwerfliche Praktiken vertritt.
Ich persönlich glaube, dass auch die „Todesstrafe“, die in vielen Gesellschaften ebenfalls eine sittliche Tatsache ist, weil diese Gesellschaften glauben, es sei richtig, dass, wenn jemand ein Leben genommen hat, ihm auch das seine genommen wird. Auch da kann man sich fragen, ob das nicht eine ethisch fragwürdige, sittliche Tatsache ist. Darf denn ein Straftäter nur deshalb auch getötet werden, weil er getötet hat?
Ich persönlich bin der Ansicht dass die Menschenwürde auch den Übeltäter schützt. Auch derjenige, der zurecht im Gefängnis sitzt, der verurteilt wurde, hat eine Würde, die gewahrt werden muss.
Ich glaube, dass selbst die Tötung dessen, der getötet hat, zumindest ethisch fragwürdig ist, weil der „Würdeanspruch“ dem „Tötungsverlangen“ der Justiz oder einer Gesellschaft entgegensteht.
Sie sehen, es gibt sittliche Tatsachen, die ethisch umstritten sind, obwohl diese sittlichen Tatsachen unabgeleitet sind, obwohl sie zum Teil große Anerkennung finden. Dennoch ist die Ethik aufgerufen, sich gegen diese sittlichen Tatsachen auszusprechen.
Natürlich wird das unmittelbar nichts bewirken. Es wird also etwa keine Änderung der Rechtsverhältnisse in diesen Gesellschaften geben, aber es gibt ein Bewusstsein, das sogar weltweiten Charakter annehmen kann, wie am Beispiel der Frauenbeschneidung. Da hat dieses Bewusstsein schon weltweite Verbreitung gefunden. Ein weltweites Bewusstsein, das darin besteht, diese Praxis als unmenschlich und nicht bewahrenswert zu verurteilen.
Die Ethik kann auch dazu beitragen, dass solche Grundlagen oder sittlichen Tatsachen, die nicht zurechtfertigen