Philosophische Anthropologie. Michael Bordt
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So brillant, detailreich und klug die Leib-Seele-Diskussion auch geführt wird, so sehr bin ich doch unsicher, ob sie tatsächlich zu Ergebnissen kommt, die uns besser verstehen lassen, wer wir als Menschen sind. Aus diesem Grund möchte ich in meiner Vorlesungsreihe nicht an diesen naturwissenschaftlich geprägten Versuch, den Menschen zu verstehen anknüpfen, sondern mich in der Tradition der Anthropologen des 16. Jahrhunderts anderen Fragen zuwenden.
Ethik
Die zweite Art und Weise, den Menschen zu verstehen und eine philosophische Anthropologie zu entwerfen, die ich eingangs erwähnt habe, ist insbesondere im deutschsprachigen Raum populär. Es handelt sich dabei um den Ver-such, den Menschen von der Ethik her zu verstehen. Damit dieser Versuch und meine Kritik daran etwas deutlicher werden, erlauben Sie mir, dass ich etwas weiter aushole und Ihnen generell etwas darüber sage, wie Ethik betrieben werden kann.
Wenn Sie sich die philosophische Landschaft heute anschauen würden, dann würden Sie sehen, dass es drei verschiedene Arten und Weisen gibt, über Ethik nachzudenken, d. h., darüber nachzudenken, wie wir handeln sollen und was eigentlich eine Handlung gut, moralisch oder sittlich macht.
Eine dieser drei Arten und Weisen ist der Utilitarismus, der insbesondere in der angelsächsischen Welt beheimatet ist. Der Utilitarismus behauptet, dass es der Nutzen ist, der eine Handlung gut, sittlich oder moralisch macht. Aber der Nutzen für was? Der Nutzen für das Glück der Menschen. Eine Handlung ist dann sittlich und moralisch richtig, wenn sie das Glück der Menschen vermehrt oder das Leid der Menschen vermindert. Man kann den Utilitarismus auf verschiedene Weise kritisieren und er ist oft kritisiert worden. Eine mögliche Kritik ist beispielsweise, dass wir zwar in vielen Bereichen unseres Lebens den Nutzen maximieren können – denken Sie beispielsweise daran, dass Sie, wenn Sie Geld haben und sich überlegen, ob Sie Ihr Geld lieber auf ein Bankkonto legen oder ob sie Aktien damit kaufen, utilitaristische Überlegungen anstellen. Sie stellen sich die Frage: Was ist für mich von größerem Nutzen: Wenn ich mein Geld zur Bank gebe oder wenn ich Aktien kaufe? Aber viele Fragen, die wir uns auf einer tieferen Ebene stellen, lassen sich nicht mehr utilitaristisch beantworten.
Denken Sie z. B. an die Frage, ob es für Sie jetzt sinnvoll ist, dieses Buch über die philosophische Anthropologie zu lesen, oder ob Sie nicht viel eher andere Dinge tun sollten, wie z. B. sich um Ihre Familie kümmern oder Obdachlosen helfen. Es sind oft Fragen dieser Art, die uns als Menschen beschäftigen und wo wir nicht nur ein Gut, wie z. B. das Maximieren des Vermögens, miteinander zur Abwägung bringen müssen, sondern ganz verschiedene Güter. Ist es besser, etwas für die Familie zu tun oder ist es besser, sich in der Dritten Welt zu engagieren? Oder ist es besser, sozialpolitische Arbeit in Ihrem eigenen Land zu tun? Dies sind Fragen, die für uns Menschen wichtig sein können, auf die der Utilitarismus jedoch keine Antwort hat, weil er meint, dass es so etwas wie ein Gut gäbe, das maximiert werden kann. Aber es gibt nichts, was den Gütern sichum-die-Familie-kümmern, eine-philosophische-Vorlesung–hören und sich-in-der-Dritten-Welt-engagieren gemeinsam ist. Wir müssen da ganz andere Fragen stellen. Fragen, die damit zu tun haben, wie wir eigentlich leben möchten, was für eine Art von Mensch wir sein möchten usw.
Der zweite Kritikpunkt am Utilitarismus ist folgender: Wenn der Utilitarismus sagt, dass eine Handlung dann moralisch und sittlich geboten ist, wenn sie das Glück vermehrt oder das Leid vermindert, dann kann es vorkommen, dass uns eine Handlung zu tun geboten ist, die zwar unsere eigenes Glück vermindert und unsere eigenes Leid vermehrt, aber anderen Menschen zugute kommt. Und das ist sicher in vielen Fällen außerordentlich kontraintuitiv.
Es ist darum kein Wunder, dass Philosophen, die der Richtung von Immanuel Kant anhängen, der Auffassung sind, der Utilitarismus erfasse mit seiner Nutzenmaximierung, nicht mal im Ansatz, worum es eigentlich geht, wenn wir von Moral und Sittlichkeit sprechen. Moral bzw. Sittlichkeit kann nach Immanuel Kant nichts damit zu tun haben, dass der Nutzen maximiert wird. Eine Handlung ist stattdessen nur dann gut, wenn ihr etwas bestimmtes zugrunde liegt, nämlich der gute Wille. Der Wille, ist dann gut, wenn er sich ausschließlich an dem orientiert, was uns die Vernunft vorschreibt. Und was uns die Vernunft vorschreibt, ist das, was der kategorische Imperativ gebietet.
Der kategorische Imperativ
Wenn Sie sich schon ein wenig mit Immanuel Kant beschäftigt haben, dann kennen Sie das Stichwort vom kategorischen Imperativ. Immanuel Kant unterscheidet den kategorischen vom hypothetischen Imperativ. Der hypothetische Imperativ sagt uns zwar auch, was wir tun sollen, aber nur unter der Voraussetzung, dass ein bestimmtes Ziel, ein Zweck gegeben ist. Ein Beispiel: der hypothetische Imperativ sagt uns, dass wir täglich eine Stunde lang Spazieren gehen sollen, wenn wir gesund leben wollen. Der hypothetische Imperativ hat also die Struktur: Du sollst das und das tun, wenn du das und das erreichen willst. Mit dem hypothetischen Imperativ sind wir Kant zu Folge noch nicht im Bereich der Moral und des Sittlichen. Alle utilitaristischen Erwägungen aber gehören für Kant in diesen Bereich des hypothetischen Imperativs: Wenn du glücklich werden möchtest, solltest du das und das tun.
Der kategorische Imperativ sagt uns dagegen kategorisch,
d. h. unabhängig von irgendwelchen Zielen, Wünschen oder sonstigen Vorstellungen, die wir als Menschen haben mögen, was zu tun ist. Die Tatsache nun, dass wir uns in dem, was wir tun, ausschließlich vom kategorischen Imperativ leiten lassen können, dass wir dazu in der Lage sind, ausschließlich dem zu folgen, was uns die Vernunft vorschreibt, unterscheidet uns als Menschen von den anderen, unvernünftigen Lebewesen und insofern wir das tun, sind wir frei, weil wir uns nur an der Vernunft orientieren und nicht an unseren privaten Wünschen, Zwängen, Emotionen und unserem Streben nach Glück.
Kant macht hier eine wichtige Unterscheidung: Zwar sei es durchaus so, dass die Menschen von Natur aus nach Glück strebten. Aber Handlungen auszuführen, die das Glück unseres eigenen Lebens zur Folge haben, sind nicht moralisch und sind nicht sittlich. Wir müssen uns vielmehr an dem kategorischen Imperativ orientieren und das tun, was uns die Vernunft gebietet, dann sind wir überhaupt erst glückswürdig in unserem Leben und frei, weil wir uns nicht mehr von dem bestimmen lassen, was uns als Menschen in unserer Subjektivität ausmacht.
Die Tugendethik
Genau an diesem Punkt knüpft die dritte oben erwähnte Konzeption des Ethischen an. Diese dritte Position, die so genannte eudaimonistische Ethik, oder Tugendethik, ist eigentlich erst in den letzten 30 bis 40 Jahren wirklich entwickelt worden. Sie knüpft an die große Diskussion zum Thema der eudaimonia in der Antike an. Eudaimonia ist der Zentralbegriff in der Ethik von Aristoteles und heißt dort so etwas wie geglücktes Leben, gelungenes Leben oder sinnvolle Existenz.
Im Jahre 2007 ist ein ganz ausgezeichnetes Buch von Richard Kraut erschienen mit dem Titel: ‚What Is Good and Why?’, also ‚Was ist gut und warum?’ Kraut ist der Ansicht, dass wir, wenn wir die Ethik verstehen wollen, zunächst den Menschen verstehen müssen. Er stellt also Kant auf den Kopf, denn Kant war ja der Auffassung, wir müssen die Ethik verstehen, das Unbedingte sollen, den Anspruch der Vernunft an den Menschen, wenn wir fragen, wie wir als Menschen leben sollen. Kraut fragt nicht, wie wir Menschen leben sollen, sondern er fragt, wie wir Menschen vernünftigerweise eigentlich Leben wollen, welche Vorstellungen des gelungenen, geglückten, sinnvollen Lebens wir als Menschen haben. Und alle Ethik, all das, was wir tun sollen, ergibt sich dann aus einer Antwort auf diese, für Kraut so zentrale, Frage. Wie wollen wir leben? Was für eine Art von Mensch wollen wir sein? Kraut leugnet nicht, dass wir weiterhin sagen können, bestimmte Handlungen