Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung. Группа авторов

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Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung - Группа авторов

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zusammenzuführen und damit die wissenschaftsgeleitete Basis für alle Aktivitäten von _erinnern.at_ herzustellen. Zahlreiche wissenschaftliche Projekte auf nationaler wie internationaler Ebene basieren auf der Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Beirat, den über all die Jahre Falk Pingel vom Georg-Eckert-Institut in Braunschweig (Deutschland) umsichtig und stets auf Fortschritt und Erfolg von _erinnern.at_ bedacht geleitet hat.

      Seit etlichen Jahren schon hat der Vorstand Überlegungen angestellt, wie _erinnern.at_ nachhaltiger und über einen mittelfristigen – besser noch: längerfristigen – Zeitraum gut abgesichert werden könnte, um die erfolgreiche Arbeit auch für die Zukunft garantiert zu wissen. Aufgrund der Initiative von Bundesminister Heinz Faßmann zeichnet sich nun mit einer Integration von _erinnern.at_ in die OeAD-GmbH, die österreichische Agentur für Bildung und Internationalisierung, eine Lösung ab, die der bisherigen Arbeit von _erinnern.at_ gerecht wird und diese auch für die Zukunft sichert.

      In diesem Sinne: ad multos annos.

      Werner Dreier

      „Wissen und Erinnerung sind dasselbe …“. Eine Rede anlässlich des Gedenktags 5. Mai1

      Im März 1938, als Österreich Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reichs geworden war, schreibt in Wien Thomas Chaimowicz, ein 14 Jahre alter Gymnasiast, in sein Tagebuch: „Am 11. März, als die Würfel endgültig gefallen waren und wir … vor dem Radioapparat saßen, hörten wir Schuschniggs Abschiedsworte: ‚Gott schütze Österreich‘. Als dann, zum letzten Mal, die ehrwürdige Melodie der Haydnhymne ertönte … erhob sich mein Vater und wir alle mit ihm, mit Tränen in den Augen. Was meinen Vater damals wohl am meisten erschütterte, war meine Feststellung: ‚Nun sind wir die Armenier des Dritten Reiches.‘“

      Der Schüler bezog sich auf den Völkermord an den Armeniern, der damals vor gut zwanzig Jahren stattgefunden hatte.

      Am 24. April jeden Jahres gedenken wir des Völkermordes an den Armeniern, dem zwischen etwa 800.000 und 1.5 Mio. Armenier sowie assyrische bzw. aramäische Christen und Griechen zum Opfer gefallen waren.

      Dieser Völkermord an den Armeniern war in den 1930er-Jahren in Deutschland und Österreich bekannt – auch, aber nicht nur durch den 1933 erschienenen historischen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel. Werfel war auf einer Orientreise 1929 in Damaskus auf verelendete armenische Kinder aufmerksam geworden, auf Waisen, deren Eltern ermordet worden waren. 1934 wurde der Roman in Deutschland wegen „Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung“ verboten.

      Der Roman wurde von vielen Juden während der nationalsozialistischen Verfolgungen gelesen. Als 1943 im Ghetto von Bialystok (Polen) dort Eingeschlossene diskutierten, ob bzw. wie sie sich wehren könnten, bezogen sie sich auf den Roman von Franz Werfel. Nur dass es im Gegensatz zum Roman in Bialystok keinen 40. Tag gab, an dem französische Kriegsschiffe die Rettung gebracht hätten.

      Es gab auch personelle Verbindungen vom Völkermord an den Armeniern zum Nationalsozialismus.

      Ein Beispiel dafür ist der damalige deutsche Konsul von Erzurum (Türkei), Max Erwin von Scheubner-Richter, der während des Ersten Weltkrieges über den Völkermord an das Auswärtige Amt berichtet hatte, nach 1920 der NSDAP beitrat und erster „politischer Generalstabschef“ von Adolf Hitler wurde. Er wurde beim „Marsch auf die Feldherrnhalle“ am 10. November 1923 von der Polizei erschossen. Scheubner-Richter war einer derjenigen, denen Hitler sein Buch „Mein Kampf“ widmete.

      Wir können wohl davon ausgehen, dass Hitler genau wusste, wovon er sprach, als er vor dem Überfall auf Polen die Vernichtung der polnischen Eliten anwies und zynisch die rhetorische Frage stellte: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“

      Doch es gibt auch andere Verbindungen vom Völkermord an den Armeniern in die Zeit des Nationalsozialismus:

      Zum Beispiel Carl Lutz

      Von den Gräueltaten hatte Carl Lutz als Schweizer Konsul im britischen Palästina durch einen Schweizer Missionar erfahren. 1944 dann amtete Lutz als Konsul in Budapest und rettete dort Zehntausende verfolgte Juden, indem er sogenannte „Schutzpässe“ für eine Auswanderung nach Palästina ausstellte und sogenannte „Schweizer Schutzhäuser“ einrichtete. In der Schweiz wurde er für sein eigenmächtiges Vorgehen kritisiert und erst nach seinem Tode gewürdigt.

      Der Völkermord an den Armeniern reicht bis in unsere Gegenwart: In diesen Tagen machen die Mördertruppen des sogenannten Islamischen Staates Jagd auf aramäische Christen in den Dörfern im Nordosten Syriens. Sie foltern, töten, vertreiben die Menschen. Die 35 assyrischen Dörfer am Fluss Chabur waren durch aramäische Christen gegründet worden, die den Völkermord an den Armeniern und Christen vor hundert Jahren überlebt hatten. Und in unseren Tagen sehen wir alle zu, wie eine weitere Verfolgungswelle wahrscheinlich die Reste des christlichen Lebens dieser Region auf grausamste Art und Weise zerstört.

      Die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern war in den 1930er-Jahren durchaus lebendig. Sie hat die bald darauf einsetzende Massengewalt und auch den Holocaust nicht verhindert.

      Wir erinnern uns heuer an den Völkermord an den Armeniern – doch was bedeutet das konkret? Was leiten wir aus diesem Gedenken an vergangenen Schrecken ab?

      Es ist ungemein schwierig, aus dem Gedenken an schlimmes vergangenes Geschehen Anleitungen für richtiges gegenwärtiges Handeln abzuleiten.

      Der Althistoriker Christian Meier aus München schrieb ein schmales Büchlein über Erinnern und Vergessen. Es trägt den Titel: „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit.“

      An den Anfang des Buchs setzt er zwei Beispiele zum Umgang mit „schlimmer Vergangenheit“. Einmal zitiert er die Worte des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog, der 1996 sagte: „Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

      Diesem Gebot des Erinnerns setzt Meier einen Friedensvertrag von 851 gegenüber, in dem drei zerstrittene Karolinger Verständigung suchten. In diesem Vertrag wird eine völlige „Tilgung“ alles vergangenen Unrechts und aller Übel aus den Herzen der Beteiligten gefordert, nichts davon sollte im Gedächtnis erhalten bleiben, damit es nicht zur Vergeltung käme. Dies sollte dem Rachebedürfnis begegnen und eine Gewaltspirale verhindern, in der Gewalt und Gegengewalt sich bald nicht mehr unterscheiden – es diente der Sicherung des sozialen Friedens.

      Meier führt eine ganze Reihe von Beschlüssen aus der Antike an, die alle das Vergessen von schlimmen Taten forderten. Allenfalls die Hauptschuldigen sollen bestraft werden, für den Rest galt „Amnestia“, was wörtlich „Nicht-Erinnerung“ bedeutet. Die Friedensverträge enthielten Bestimmungen, die versuchen, einen Schlusspunkt gegen die Zyklen von Gewalt zu setzen. Sie enthielten Bestimmungen zum Vergessen und Vergeben, damit die ehemals verfeindeten Gruppen einen neuen Anfang machen können, friedfertig miteinander zu leben.

      Doch auch für Christian Meier sind die NS-Zeit und vor allem der Völkermord an den Juden ein einschneidendes Ereignis, das nicht vergessen werden kann.

      Für die nationalsozialistischen Massenmorde gilt ganz besonders, dass dieses zur Herstellung des sozialen Friedens angeordnete Vergessen mit den „unabweisbaren“ Erinnerungen an die Verbrechen konfligiert: Die Erinnerungen an die erlittene Gewalt sind insbesondere für die Opfer „unabweisbar“.

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