Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger Sonnabend
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Seine positive Haltung gegenüber Fremden brachte Claudius viel Kritik ein, auch später noch, nach seinem Tod, wie eine eigenartige Quelle aus der Regierungszeit seines Nachfolgers Nero dokumentiert. Sie stammt aus der Feder Senecas, Neros einflussreichem Berater, der dank dieser Tätigkeit im direkten Umfeld der Macht Millionär wurde und in der Attitüde des stoischen Philosophen seine nicht ganz so begüterten Zeitgenossen für die Idee zu begeistern versuchte, das höchste Glück in Genügsamkeit und Askese zu sehen. Ein paar Monate nach Neros Herrschaftsantritt 54 n. Chr. veröffentlichte Seneca eine Satire mit dem Titel Apocolocyntosis. In dieser genialen Verballhornung der Praxis, römische Kaiser nach ihrem Tod durch die Apotheose, die Entrückung zu den Göttern, zu ehren (der Titel bedeutet »Verkürbissung«), hat sich der verstorbene Kaiser Claudius vor den himmlischen Göttern zu verantworten. Doch zunächst muss die Seele den Körper verlassen, sie findet aber keinen Ausgang. Schuld daran ist die Schicksalsgöttin Clotho. Sie möchte dem Kaiser noch etwas Zeit geben, »bis er auch noch die paar Leutchen, die übrig geblieben sind, mit dem Bürgerrecht beschenkt hätte«. Erklärend sagt der Erzähler an dieser Stelle: »Claudius hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, alle Griechen, Gallier, Spanier, Britannier in der Toga zu sehen.« Clotho fährt fort: »Aber da nun laut Beschluss noch einige Ausländer als Saatgut für später bleiben sollen und du befiehlst, es solle so sein, so sei’s denn.« (3,3) Etwas später tritt die Göttin Febris auf. Sie ist für Krankheiten zuständig, insbesondere für fiebrige Infekte. Ihr Heiligtum befand sich in Rom auf dem Palatin, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Residenz des Kaisers. Insofern war sie Expertin für alles, was den – häufig kränkelnden – Claudius betraf. Und nun betreibt sie Aufklärung. Claudius – ein Römer? Nein, er ist in Lugdunum (heute Lyon) geboren, er ist also »ein lupenreiner Gallier«, und »deswegen hat er auch, wie es sich für einen Gallier gehört, Rom eingenommen«. Ein tiefer Griff in die Geschichte: 387 v. Chr. hatten Gallier die Stadt Rom gestürmt. Und nun lud der »Gallier« Claudius seine »Landsleute« dazu ein, im Senat Platz zu nehmen. Bei dieser Argumentation interessierte es nicht, dass Claudius in Wirklichkeit einer alten Römerfamilie entstammte. Dass er in Lyon geboren wurde, war reiner Zufall, weil sein Vater Drusus zu diesem Zeitpunkt dort in militärischer Mission seine Zelte aufgeschlagen hatte.
Die hohe Politik folgt eigenen Gesetzen, auch, wenn es um Fremde geht. Anders sieht es im normalen Alltag aus. Das Rom der Kaiserzeit war ein Schmelztiegel der Völker und Kulturen. Mehr als eine Million Menschen lebten in der Hauptstadt des Imperiums. Viele von ihnen kamen aus dem Osten der Mittelmeerwelt – aus Griechenland, Anatolien, Persien, Judäa, Syrien, Ägypten.
Iuvenal mag die Fremden nicht. Vor allem die aus dem Orient sind ihm zuwider. Iuvenal ist Dichter. Daher hat er die Gelegenheit, seiner Aversion gegen die Fremden ein breiteres Forum zu verschaffen. Er schreibt Satiren. In Rom handelt es sich dabei, anders als im heutigen Verständnis, um eine spezielle dichterische Form und nicht um eine mit pointierten Zuspitzungen arbeitende Kunstgattung. Was er sagt, meint er auch so. Seine Passion sind die Verhältnisse in der Großstadt Rom – der Alltag, die Menschen, ihre Sorgen und Nöte in der Kaiserzeit, zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr.
In der dritten Satire geht es um die Fremden. Ein Freund namens Umbricius ist des Treibens in der Hauptstadt überdrüssig und sehnt sich nach Ruhe und Entspannung. Er will den Moloch Rom verlassen und sich in das anmutige Cumae am Golf von Neapel zurückziehen. Gegenüber seinem Freund Iuvenal präzisiert der Großstadtmüde seine Motive für die Flucht.
Ihn stört viel – die Betriebsamkeit, der Lärm, die Geschäftemacher, die Gefahr von einstürzenden Häusern und Bränden, die Schlaflosigkeit, der Verkehr. Vor allem aber stören ihn die vielen Fremden (Sat. 3, 58 ff.).
»Welches Volk heute bei unseren Reichen am beliebtesten ist und vor wem ich vor allem die Flucht ergreife, will ich eilends bekennen, und Scheu soll mich nicht hindern: ich vermag nicht, ihr Mitbürger, das griechische Rom zu ertragen. Freilich, welchen Teil der Hefe bilden schon die Achäer?
Schon längst ist der syrische Orontes in den Tiber gemündet und hat mit sich geführt die Sprache, die Sitten, die schrägen Saiten samt dem Tibiabläser sowie die einheimischen Trommeln und die Mädchen, die man heißt, sich beim Circus feilzubieten: auf denn zu ihnen, die ihr eine ausländische Hure mit ihrer bunten Mitra schätzt!
Dein Bauer von einst, Bürger, zieht die schnellen Schleicher an und trägt an ölglänzendem Hals die Siegermedaillen.
Der eine verließ das hochgelegene Sikyon, der andere wieder Amydon, dieser Andros, jener Samos, ein weiterer Teil Tralles oder Alabanda, sie streben zum Esquilin oder zu dem nach der Weide benannten Hügel, um das Herzstück der großen Häuser zu werden und deren Herren.
Ihr Geist ist flink, die Dreistigkeit verwegen, die Rede stets parat und brausender als die des Isaeus. Gib an, für wen du ihn hältst, jede Art Mensch hat er mit sich zu uns gebracht: Grammatiker, Rhetor, Geometer, Maler, Masseur, Wahrsager, Seiltänzer, Arzt, Zauberer, auf alles versteht sich ein hungerndes Griechlein, in den Himmel wird er, befiehlst du es, sich erheben.«
Der Text enthält, neben römischen Lokalitäten wie dem Circus Maximus, wo die Wagenrennen stattfanden, dem Esquilin, einem der Sieben Hügel Roms, und dem Viminal, dem »nach der Weide benannten Hügel«, viele Fremdbegriffe: Achäer als Synonym für die Griechen, den Orontes (der antike Name des Flusses Nar el Asi), in Rom Inbegriff für Syrien; die Tibia, ein orientalisches Blasinstrument; die Mitra, ein orientalisches Kopfband; Isaeus für einen damals sehr bekannten Syrer, der in Rom als Stegreifredner auftrat.
Der syrische Orontes ist in den Tiber gemündet – eine berühmte Metapher: Der syrische Fluss hat sich nicht nur mit dem römischen Fluss vermischt, er hat ihn sogar verdrängt. Zielscheibe des Zorns sind die »Griechen« – unter diesem Sammelbegriff werden alle Menschen vereint, die aus dem Osten kommen. Nachdem Alexander der Große die griechische Welt bis zum Indus ausgedehnt hatte, war die griechische Kultur eine Weltkultur geworden. Griechen lebten in Anatolien, Ägypten, Syrien, bildeten mit der einheimischen Bevölkerung eine mal mehr, mal weniger homogene neue Kultur.
Wer kam nach Rom? Gelegenheitsarbeiter, Musiker, Prostituierte, Zauberer, Masseure – wenn man Umbricius Glauben schenken will, alles Tätigkeiten, die nach römischem Empfinden in der Skala geachteter Berufe nicht ganz weit oben rangierten. Aber warum sind sie gekommen? »Um das Herzstück der großen Häuser zu werden und deren Herren«. Sie biedern sich, so der Vorwurf, bei den Reichen und Mächtigen an, um, so der weitergehende Vorwurf, diese in Zukunft zu beerben. Die Einheimischen, so die Furcht des Umbricius, werden das Nachsehen haben.
Politiker waren für Fremde, Normalmenschen waren gegen Fremde. Geht diese einfache Gleichung auf, wenn man die Verhältnisse in der Antike betrachtet? Die beiden kontrastiven Fälle aus der römischen Kaiserzeit zeigen schon einmal den Rahmen dessen auf, was an Positionen möglich war. Sind die Menschen von Natur aus so gepolt, dass sie Fremde entweder als Gefahr oder als Bereicherung empfinden? Oder sind dafür die Verhältnisse, Umstände, Bedingungen, Situationen verantwortlich?
Die Antike, lautet ein viel zitierter Satz des Altertumsforschers Uvo Hölscher, ist das uns »nächste Fremde«. Bessere Voraussetzungen, etwas über das Verhältnis zu Fremden und zum Fremden zu erfahren, kann es eigentlich nicht geben. Natürlich meinte Hölscher damit nicht die zeitliche Nähe. In dieser Hinsicht hat die Antike wenig Chancen, Aktualität für sich beanspruchen zu dürfen. Gemeint war der Satz in kultureller und mentaler Hinsicht. Die Antike ist fremd genug, um unsere Denkgewohnheiten und unsere Verhaltensweisen kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls auch infrage zu stellen. Und sie ist nahe genug, um für uns heute auch noch relevant zu sein. Was Umbricius über die Migranten aus Syrien sagte, ist nicht exklusiv antik, sondern gehört, wie man weiß, auch heute zum verbalen Repertoire derjenigen, die mit dem Zuzug von Fremden Probleme haben. Da ist die Antike uns sehr nahe, ebenso, wenn dafür geworben wird, Zuwanderung als Bereicherung zu empfinden.