Fremde und Fremdsein in der Antike. Holger Sonnabend
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Silius Italicus, Punica 15, 169–172
Die Gründungslegende von Marseille bringt auch Licht in das Dunkel eines Problems, das in den Forschungen zur griechischen Kolonisation eine prominente Rolle spielt. Die Kolonisten der ersten Stunde waren Männer, meist junge Männer. Es ist unmittelbar einsichtig, dass die von ihnen gegründeten Städte nur dann eine Zukunftsperspektive hatten, wenn zu der Bevölkerung auch Frauen gehörten. An Bord waren Frauen jedenfalls nicht, wenn die Schiffe auf der Suche nach Land unterwegs waren. Holten die Siedler die Frauen aus Griechenland nach, wenn sie sich für einen Platz entschieden hatten? Oder heirateten sie einheimische Frauen? Im Fall von Massalia herrscht wünschenswerte Klarheit: Gyptis und Protis stehen für die Praxis, dass die Griechen Ehen mit einheimischen Frauen schlossen, was der Integration ohne Frage sehr förderlich war. Aber so war es wohl nicht immer. Im Zusammenhang mit der Gründung von Milet in Kleinasien durch ionische Griechen schildert es Herodot (1,146) als ungewöhnlich, dass die Siedler einheimische Frauen heirateten und hat dabei auch eine merkwürdige Geschichte parat:
»Die aber vom Prytaneion in Athen auszogen und meinten, sie seien die vornehmsten unter den Ioniern, die brachten keine Frauen mit in ihre neue Siedlung, sondern nahmen karische Frauen, deren Eltern sie zuvor erschlagen hatten. Und um dieses Totschlags willen machten es sich die Frauen zum Gesetz und setzten einen Schwur darauf und gaben ihn weiter an ihre Töchter, niemals mit ihren Männern zu essen noch ihren Mann beim Namen zu rufen, weil sie ihre Väter und Männer und Kinder umgebracht und nach solcher Tat sie selber zu ihren Frauen gemacht hatten.«
Dass die Zugewanderten die Eltern ihrer künftigen Frauen erschlugen, macht nur Sinn, wenn sich diese geweigert hatten, ihnen ihre Töchter zur Frau zu geben. Aber, so bleibt zu hoffen, vielleicht handelt es sich auch bloß um eine Legende, die erfunden wurde, um den so stolzen und selbstbewussten Athenern zu schaden.
3. Wir und die Anderen – Konzepte des Fremdseins
Wer ist eigentlich ein Fremder? Wann bezeichnen wir einen anderen Menschen als Fremden? – Wenn man ihn nicht kennt? Wenn er anders aussieht? Wenn er anders spricht?
Die Griechen haben sich diese Fragen auch gestellt. Sie beantworteten sie jedoch nicht mit einer Definition des Fremden. Sie suchten vielmehr nach Kriterien für sich selbst, um sich dann von jenen abzugrenzen, die nicht diesen Kriterien entsprachen. Im 5. Jahrhundert v. Chr. formulierte der griechische Historiker Herodot die klassische Definition dessen, was aus Griechen Griechen macht (8,144): »Wir haben die gleiche Abstammung, die gleiche Sprache, die gleiche Religion und die gleichen Lebensformen.«
Das bedeutet im Umkehrschluss: Fremde haben eine andere Abstammung, eine andere Sprache, eine andere Religion und andere Lebensformen.
Woher sie kamen und von wem sie abstammten, wussten die Griechen – die sich meistens Hellenen nannten – selbst nicht so genau. Immerhin wussten sie, dass es sie nicht schon immer gegeben hatte. So sagt der athenische Historiker Thukydides im 5. Jahrhundert v. Chr. (1,2): »Es ergibt sich nämlich, dass, was heute Hellas heißt, nicht von alters her fest besiedelt gewesen ist, sondern dass es früher Völkerwanderungen gab und die einzelnen Stämme leicht ihre Wohnsitze verließen unter dem Druck der jeweiligen Übermacht.«
Später, als sie sich dann nach einer langen Phase der Formierung gefunden hatten und eine ethnische oder zumindest kulturelle Einheit bildeten, waren die Griechen bemüht, sich eine gemeinsame Herkunft zu verschaffen. Beliebt war das Mittel, eine Abstammung von Göttern, Heroen oder fiktiven Stammvätern zu konstruieren und damit Identität zu erzeugen. Verbreitet war der Mythos von einem Stammvater Hellen, auf den über seine Söhne und Enkel letztlich alle Griechen – oder besser: Hellenen – zurückgegangen sein sollen. Eine für die Griechen typische Art der Rekonstruktion: Ortsnamen, Personennamen oder Völkernamen wurden gerne vom völlig fiktiven Namensgeber abgeleitet, hinter dem man sich scharte, um zu einer Identität zu finden und sich von anderen abzugrenzen.
Ein wichtiges Element von Zugehörigkeit und Identität waren bei den Griechen die Phylen und Phratrien. Die Phyle wird im Allgemeinen etwas altertümlich mit »Stamm« oder »Sippe« übersetzt. Diese Verbände entstanden in den Zeiten der großen Wanderungen der nachmykenischen Zeit, als sich die Stadtstaaten formierten. Sie bildeten das Fundament der für die Griechen der klassischen Zeit charakteristischen Poleis. Niemals aber vergaßen die Griechen ihre stammesmäßige Herkunft.
Die Phratrie, etymologisch abgeleitet von dem griechischen Wort für »Bruder«, bildete, als Unterabteilung einer Phyle, einen Zusammenschluss von Personen, die sich familiär miteinander verbunden fühlten. Dabei handelte es sich um Großfamilien, die mehrere hundert Köpfe zählen konnten. Diese Clans waren eng miteinander verbunden, feierten gemeinsame Feste, heirateten untereinander und halfen sich in allen wichtigen Angelegenheiten. Die wichtigste Veranstaltung war das jährlich stattfindende Apaturia-Fest in Athen. Hier demonstrierten die Mitglieder der Phratien ihre Zusammengehörigkeit und ihren Zusammenhalt. Das Fest dauerte drei Tage und bot viele Attraktionen. Die jungen Männer, Epheben genannt, wurden zeremoniell in die Gemeinschaft der Erwachsenen eingeführt, indem man ihnen das Haar schor. Gleichzeitig wurden die im abgelaufenen Jahr geborenen Kinder in die Großfamilie aufgenommen. Per Eid oder Opfer bezeugten dabei die jeweiligen Väter, dass die Kinder aus einer legitimen Ehe mit einer Athenerin stammten.
Fremde, die diesem Spektakel zusahen, fühlten sich dabei nicht gerade perfekt integriert. Im Gegenteil: Nichts konnte ihnen deutlicher vor Augen führen, dass sie nicht dazugehörten. Die Griechen bildeten aus ihrer Sicht eine verschworene, exkludierende Gemeinschaft.
Nicht alle Griechen verstanden sich untereinander problemlos. Es gab verschiedene Dialekte, die eine Kommunikation erschwerten. Und doch waren sie eine einheitliche Sprachfamilie. So fungierte die Sprache als ein wesentliches Element bei der Frage, wer zu den Griechen gehörte und wer nicht. Wer nicht Griechisch sprach, war ein »Barbar« – so das lautmalerische Etikett, das die Griechen, stolz auf die Ästhetik ihrer Sprache und den Reichtum an Vokalen, all jenen anhefteten, die Klänge benutzten, die sich in ihren Ohren wie kakophonisches Kauderwelsch anhörten.
Zum Glück waren die Griechen keine Sprachwissenschaftler. Denn wenn die Sprache ein Faktor war, der Griechen von Nichtgriechen trennte, hätten sie auch die frühen Kreter nicht für Griechen halten dürfen. Auf Kreta entstand um 2000 v. Chr. die minoische Kultur, die erste europäische Hochkultur, benannt nach dem sagenhaften König Minos, der, wie die Griechen überzeugt waren, im Palast von Knossos residierte. Die Griechen waren stolz, schon so früh so bedeutend gewesen zu sein und vereinnahmten die minoische Kultur retrospektiv als Anfang und Ausgangspunkt ihrer eigenen Kultur. In Wirklichkeit waren die Minoer keine Griechen, denn sie sprachen, wie ihre Linear A genannte Schrift beweist, nicht Griechisch, sondern eine vorgriechische Sprache.
»Ich bringe Opfer für Zeus, Hera, Poseidon, Demeter, Apollon, Artemis, Athene, Ares, Aphrodite, Hermes, Hephaistos und Hestia.« Ein Grieche, der diesen Satz sagte, war ein vorbildlicher Grieche. Denn er erwies allen wichtigen Göttinnen und Göttern seine kultische Reverenz. Die zwölf Göttinnen und Götter, die weit oben auf dem