Erinnerungen an die "68er": Damals in Dahlem. Jürgen Dittberner
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In westlichen Gesellschaften wird eine politische Kultur, in der Menschenrechte, Demokratie, Wohlstand und Stabilität geachtet und infolgedessen angestrebt werden, positiv bewertet. Immer wieder, so nach dem Sturm auf den amerikanischen Kongress am 6. Januar 2021, wird die Gefährdung einzelner politischer Kulturen beschworen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich seit ihrer Gründung nach dem 2. Weltkrieg immer wieder gewandelt. In der „Ära Adenauer“ wurde der aus den drei westlichen Besatzungszonen geschaffene neue Staat mit Bonn als Hauptstadt in die westliche Welt integriert. Diese „Westintegration“ Konrad Adenauers ging einher mit dem „Wirtschaftswunder“ Ludwig Erhards, das zunehmenden Wohlstand brachte.
Mit dem Bau der Mauer wurde ein tiefgehender und globaler Ost-West-Gegensatz manifestiert.
In der sozial-liberalen Zeit wurde unter Willy Brandt und Walter Scheel eine „neue Ostpolitik“ eingeleitet, die eine Entspannung zwischen den verfestigten Blöcken im Kalten Krieg zwischen Ost und West bewirkte.
Die von den Universitäten ausgehende APO verknüpfte die bislang vorwiegend formelle Demokratie mit inhaltlichen, oft auch immateriellen Werten wie Freiheit und Gerechtigkeit.
In der „Ära Kohl“ dann wurde der Prozess der europäischen Integration vom Bundeskanzler vorangetrieben.
Die „deutsche Vereinigung“ verstärkte zwar das internationale Gewicht der Bundesrepublik, bereitete dem größeren Staat mit der nunmehrigen Hauptstadt Berlin im Innern aber Integrationsprobleme.
Unter Gerhard Schröder als Bundeskanzler wurde der deutsche Arbeitsmarkt durch die „Hartz-Reformen“ modernisiert, und die Arbeitslosenzahlen sanken. Gleichzeitig emanzipierte sich die Bundesrepublik von der Vormacht USA und verweigerte die Teilnahme am Irak-Krieg.
Die CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel sozialdemokratisierte das Land. Der Kampf gegen den Klimawandel wurde Staatsziel, der Atomstrom geächtet, die Massenintegration geflüchteter Ausländer gefördert.
Die Corona-Krise schließlich beendete den rasanten Aufstieg des Landes. Wann die Krise enden wird, ob an Altes angeknüpft werden kann, weiß niemand.
Demokratische Kultur nach der Diktatur
Es stellte sich für westliche Beobachter nach dem 2. Weltkrieg die Frage, ob in Westdeutschland auf die Diktatur des Nationalsozialismus eine demokratisch politische Kultur folgen könnte. In international vergleichenden Studien wurde die politische Kultur in der Ära Adenauer empirisch untersucht.1 Dabei kam heraus, dass die Bürger der Bundesrepublik die Demokratie zwar mittrugen, aber gewisse autoritäre Einstellungen aufwiesen. Diese Einstellungen bezogen sich vor allem auf den Staat („Vater Staat“) und waren wohl auch der Grund dafür, dass eine Persönlichkeit wie Konrad Adenauer als Kanzler eine dominante politische Stellung einnehmen konnte.
Erstaunlich ist, dass das positive Verhältnis zum Staat den Nationalsozialismus überdauert hatte. Dass es den Nationalsozialismus gegeben hatte, ist auch eine Folge eines in Deutschland tief verwurzelten Vertrauens in den Staat, der seine Rolle selbst dann behielt, wenn er zerstörerisch und verbrecherisch agierte. „Staat bleibt Staat!“ – wenn auch die Inhalte radikal wechseln. So konnte beispielsweise für das Berufsbeamtentum eine Kontinuität geschaffen werden, die sich von der Weimarer Republik über den Hitler-Staat bis in die Bundesrepublik fortsetzte.
Es ist bekannt, dass im angelsächsischen Denken, besonders in den USA, der Staat diese Rolle niemals hatte, sondern eher als mächtiger, oft lästiger, Akteur im Interessenwettstreit zwischen privaten und öffentlichen Ansprüchen erschien. „Uncle Sam“ sorgte nie für Wohl und Wehe der Seinen; er war kein Protektor, sondern ein Fordernder, ein Interventionist.
Der Hinweis auf das „staatsgläubige“ Denken der deutschen Demokraten sollte nicht als Abwertung einer reifen demokratischen Kultur verstanden werden, sondern als hinnehmbarer Unterschied. Denn es ist eine Gefahr von Analysen politischer Kultur aus US-amerikanischer Sicht, dass „anders“ oft als „weniger entwickelt“ verstanden wird.
Rückgriff auf Weimar
Dass die Bundesrepublik nach 1945 umschalten konnte auf den Zustand einer bürgerlich-demokratischen politischen Kultur, ist nicht primär eine Folge der „Re-Education“-Bemühungen der alliierten Sieger, sondern ein schlichter Rückgriff auf die – allerdings etatistische – politische Kultur der Weimarer Republik. Wieder gegründet wurden die Weimarer Parteien. Die Union (CDU und CSU) rekurrierte auf dem alten Zentrum, der konservativen DNVP und einigen Liberalen. Die SPD erstand erneut, und die FDP knüpfte an die Parteien DDP und DVP an. Der Föderalismus war das A und O des staatlichen Neubeginns. Für seine Repräsentanz wurde die deutsche Bundesrats- und nicht die amerikanische Senatslösung gewählt.
Aus dem Reichs- wurde der Bundeskanzler – dieser allerdings mit alleiniger Verantwortung gegenüber dem Parlament, mit der Richtlinienkompetenz und der Abwahlmöglichkeit nur über ein konstruktives Misstrauensvotum gestärkt. Der Bundespräsident wurde zum obersten Notar der Republik, gewählt von einer Bundesversammlung und nicht direkt durch das Volk. Einen „Ersatzkaiser“ sollte es nicht geben. Aus der Erfahrung heraus, dass der Rechtsstaat von Weimar, ohne juristisch aufgehalten zu werden, in eine Führerdiktatur übergleiten konnte, wurde das Bundesverfassungsgericht kreiert. Es hatte sich lange Zeit als „Hüter der Verfassung“ bewährt.2
Zwar waren die Millionen von Mitgliedern der NSDAP 1945 von einem Tag auf den anderen wie in Luft aufgelöst; die NS-Ideen von Führerstaat, die Eroberungslust, die Rassenüberheblichkeit und der Judenhass jedoch steckten weiterhin in vielen Köpfen. Aber diese Einstellungen waren nun tabuisiert. Wo sie hochkamen wie bei der rechtsextremen SRP, bei Teilen der AfD, ging der Staat mit Parteienverboten oder politischen Gegenstrategien vor. Nazireden verstießen gegen den öffentlichen Konsens. Das begriffen die meisten schnell. Im vorpolitischen Alltag aber – in Familienkreisen etwa – waren sie noch gewärtig:
„Hitler war gar nicht so schlecht; er hätte nur nicht mit den Juden anfangen sollen. – Um die Autobahnen beneidet uns heute die ganze Welt. – Der ‚Ami‘ hätte 1945 mit uns weiter nach Osten gegen den ‚Iwan‘ gehen sollen. – Die Juden waren selbst schuld: Sie haben sich vor 1933 eben zu sehr nach vorne gedrängt.“:
Solche Reden waren im „privaten Rahmen“ oft zu hören.
Skeptische Generation
In der offiziellen Politik war dergleichen jedoch verpönt. Die Legitimität des demokratischen politischen Systems in der „Ära Adenauer“ wurde vor allem durch das „Wirtschaftswunder“ fundamentiert. Die durch Krieg und Niederlage ausgezehrten Menschen stürzten sich in die Arbeitsprozesse, schufen materielle Werte wie Lebensmittel, Kühlschränke, Autos und Fernseher, nach denen sie lechzten und die sie so haben wollten wie im bewunderten vermeintlichen Paradies auf Erden: wie in „Amerika“ – wie in den USA.
Die Masse der Bevölkerung gab sich dem Schaffen und Konsumieren hin. Nach den Heilsparolen des untergegangenen Regimes begehrte sie Diesseitiges. Die junge „skeptische Generation“3 wollte von Ideen nichts mehr hören und sich mit Gütern beglücken.
Die Politiker rekrutierten