Erinnerungen an die "68er": Damals in Dahlem. Jürgen Dittberner
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Heute sind sie alle in Pension oder weggelobt: der Altkanzler Schröder, die einst so stolzen CDU-Ministerpräsidenten und auch der einstige SPD-Fraktionsvorsitzende. Dessen Nachfolgerin Andrea Nahles hat ebenfalls resigniert, Friedrich Merz verlor mehrere Abstimmungen beim CDU-Bundesparteitag, und Peter Struck und Guido Westerwelle sind nicht mehr auf dieser Welt. Angela Merkel hingegen ist weiterhin Bundeskanzlerin.
Was hält diese Frau?
Gerd Langguth schilderte eine Episode aus der Schulzeit der Angela Dorothea Kasner, der späteren Bundeskanzlerin Angela Merkel: „In ihrer Schulzeit brauchte sie eine geschlagene Dreiviertelstunde, um, als die Klingel bereits das Ende der Stunde ankündigte, einen Sprung vom Dreimeterbrett in das Wasserbecken zu wagen.“20
Sie zögert und zaudert, aber sie tut es am Ende doch. Horst Seehofer, der Freund/Feind aus dem eigenen Lager, beschwört: „Wer sie unterschätzt, hat schon verloren.“
Im Binnenclinch scheint sie stark zu sein. Franz Müntefering, ihr erster Vizekanzler und Sozialdemokrat soll gesagt haben, bei ihr als Pilotin lande man immer, man wisse nur nicht, wo.
Am wichtigsten ist es ihr offensichtlich, oben zu bleiben.
Charismatisch tritt sie nicht auf, eher gibt sie sich pragmatisch und formuliert meist ungenau. So kann sie jederzeit die Position wechseln, ohne von gestern Gesagtem allzu sehr aufgehalten zu werden.
Sie entscheidet und erweckt den Eindruck, sie durchschaue die jeweiligen Materien jederzeit. Ihre Minister lässt sie dabei oft wie Assistenten aussehen, lässt sie ansonsten gewähren. Sigmar Gabriel konnte als SPD-Vorsitzender über sie herziehen, Guido Westerwelle lavierte im UN-Sicherheitsrat.
Irgendwann verhedderten sie sich alle, und dann war sie – die Kanzlerin – es, die die Sache regelte. Sie hat eben einen langen Atem.
Dass der einst zapplige Sarkozy ihr in der EU den Rang abzunehmen schien, störte sie offenbar nicht. Sie machte derweil Geschäfte mit der Weltmacht China und holte sich im Weißen Haus in Washington einen hohen Orden ab. Als Sarkozys Nachfolger Emmanuel Macron dann als glühender Europäer antrat, strebte er zweifellos die Führung in Europa an, lehnte sich aber zugleich bei Merkel an. Dass Deutschland das größte EU-Mitglied ist, weiß mittlerweile jeder, und dass Frau Merkel und nicht ihr Außenminister die Außenpolitik bestimmt, ist klar. Als der einstige US-Präsident Donald Trump sie öffentlich verachtete, prallte das an ihr ab.
Diese Angela Merkel hat die politische Kultur Deutschlands Schritt für Schritt verändert:
Die „alten Herren“, die früher mächtig waren, sind abserviert.
Das Klima und der Klimawandel wurden wichtiger Teil ihrer Politik.
2005 schon machte Angela Merkel Deutschland zum Einwanderungsland.
Die Industrienation Deutschland akzeptiert und erstrebt vor allem erneuerbare Energien.
Zur Bewältigung der Corona-Pandemien greift die Regierung in liebgewordene Rechte der Bürger ein, und der Opposition im Bundestag bleibt müder Protest.
Nach dem Austritt Groß Britanniens erfuhr die Europäische Union eine Grunderneuerung, angetrieben durch die Ratspräsidentin Angela Merkel und ihre europäische Gehilfin Ursula von der Leyen.
Gegen Ende der Ära Merkel fragt sich: Was steckt da von 68 drin?
Damals in Dahlem schwärmten viele von einer neuen Kultur in Deutschland. Ahnte jemand, wohin das führen könnte und wie die Bundesrepublik 50 Jahre später aussehen würde?
Wäre Angela Merkel nicht auch ohne die 68er möglich gewesen?
1 Gabriel Almod / Sidney Verba, The Ciciv Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963
2 Dass die Demokratie sich in Deutschland nach 1945 stabil entwickelte, hatte also damit zu tun, dass man an eine im Lande vorhanden gewesene Kultur, auch wenn sie brutal zerstört worden war, anknüpfen konnte: -personell und institutionell. Bei ihrem Einmarsch im Irak verwiesen die Amerikaner später gerne auf das „erfolgreiche“ Modell Deutschland und unterschätzten dabei, dass es im Irak derartige Vorgängerkulturen gar nicht gegeben hatte.
3 Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf-Köln 1963
4 Jürgen Leinemann, Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker, München 2004, S. 128
5 Jürgen Dittberner, Sind die Parteien noch zu retten? Die deutschen Parteien: Entwicklungen, Defizite und Reformmodelle, Berlin 2004, S. 33
6 APO = „Außerparlamentarischen Opposition“
7 Ronald Inglehart, Modernization and postmodernizazion: cultural, economic, and political change in 43 societies, Princeton 1997
8 Jürgen Dittberner, Berlin Brandenburg und die Vereinigung. Und drinnen tobt das pralle Leben. Eine Innenansicht, Berlin 1994, S. 36 f/ S. auch Beiträge „Benno Ohnesorg“ und „Kurras“ in diesem Band.
9 Jürgen Dittberner, Sind die Parteien noch zu retten?, a.a.O., S. 59 ff
10 Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1963
11 RAF = „Rote-Armee-Fraktion“
12 BDI = Bundesverband der Deutschen Industrie
13 Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952 – 1967, Stuttgart 1991
14 Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995
15 Wolf-Dieter Narr (Hg.), Auf dem Weg zum Einparteienstaat, Opladen 1977
16 Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012