Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen. Peter-Erwin Jansen

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Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen - Peter-Erwin Jansen

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Das Spektrum ihrer Themen reichte von der Weltwirtschaft bis zur Krise der bürgerlichen Familie, von den hohen Künsten bis zur Populärkultur, vom autoritären Staat bis zur autoritären Persönlichkeit. Sie versuchten nicht nur, die Ära des Kapitalismus zu verstehen – sei es in seiner entstehenden, klassischen, monopolistischen oder staatlichen Phase –, sondern sie spekulierten auch kühn über den Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte und erweiterten das Konzept der »Aufklärung« um die frühesten Bemühungen der Menschheit, eine feindliche Umwelt zu meistern und die Selbsterhaltung der Spezies und ihrer einzelnen Mitglieder sicherzustellen. Trotz des Misstrauens gegenüber der hegelianisch-marxistischen Kategorie der Totalität, die sich auf eine triumphale Metaerzählung der Menschheitsgeschichte als dialektischen Fortschritt in Richtung einer sozialistischen Zukunft stützte, verloren sie nie vollständig ihre ganzheitliche Perspektive. Auch die nachfolgenden Generationen der Kritischen Theorie waren überzeugt davon, dass grundlegende Fragen auch umfassende und tiefgreifende Antworten erforderten, die nur durch die Synthese und die gemeinschaftlichen Anstrengungen der kritischen Theoretiker geklärt werden konnten. Das zeigt sich noch in Jürgen Habermas’ bemerkenswertem, 1.700 Seiten umfassenden Abschiedsgeschenk Auch eine Geschichte der Philosophie2.

      Paradoxerweise konnten viele Intellektuelle der Frankfurter Schule die Hindernisse nicht ignorieren, die eine systematische Gesamtdarstellung ihrer theoretischen Erkenntnisse über eine Welt, die zunehmend undurchsichtig schien, verhinderten. Das taktische Mittel einer »Kritischen Theorie kleingeschrieben« reagierte performativ auf das, was Habermas als »die neue Unübersichtlichkeit«3 der modernen Welt bezeichnet hatte. In Werken wie Horkheimers Dämmerung, Walter Benjamins Einbahnstraße und Theodor W. Adornos Minima Moralia finden sich meist komprimierte Aufsätze, Aphorismen und Epigramme. Die gelegentlich gnomisch-kryptischen Formulierungen, die sich nur indirekt auf nachhaltigere Argumente und erweiterte Beobachtungen stützten, wurden bewusst nie vollständig ausgeführt. Zuweilen begnügten sich die Autoren mit Fragmenten. Es finden sich Ausführungen und Positionen mit scheinbar unvereinbaren Widersprüchen. So widersetzen sich ihre Analysen einer konsequenten Harmonisierung und Vereinnahmung durch den traditionellen Wissenschaftsbetrieb.

      Wie Georg Simmel vor ihnen und Siegfried Kracauer und Ernst Bloch in denselben Jahren, verließen sie sich eher auf Denkbilder als auf die starre Präzision wissenschaftlicher Literatur. Diese Denkbilder sollten Funken entzünden, die die Düsternis durchdringen und zu den »profanen Erleuchtungen« führen, die, wie Benjamin hoffte, einen Einblick in eine andere und bessere Welt liefern könnten.4

      Die nie gelöste Spannung zwischen ihren totalisierenden Bestrebungen und der Schwierigkeit, einen Weg zu finden, die gesellschaftliche Totalität darzustellen, war mehr als ein Spiegelbild intellektueller Einschränkungen. Es drückte auch auf experimenteller Ebene die Auswirkungen dessen aus, was Adorno bekanntermaßen als »beschädigtes Leben«5 bezeichnete, das geprägt war von der Zerstörung ihrer politischen Hoffnungen, dem erzwungenen Exil und der hartnäckigen Widerstandsfähigkeit eines erstickenden Status quo.

      Eine der äußerst beunruhigenden Prognosen der Kritischen Theorie war, dass der Ort für eine sinnvolle individuelle Entwicklung, der einst von der bürgerlichen Familie angestrebt wurde und als mögliches Modell künftiger Emanzipation auf einer allgemeineren Ebene hätte gelten können, fragwürdig geworden war. Mit dem Niedergang der traditionellen Familie, die einst als »Zufluchtsort in einer herzlosen Welt«6 und Quelle ethischer Orientierung galt, wurde die Sozialisierung der Heranwachsenden zunehmend anfällig für Marktanforderungen, staatliche Interventionen und den Einfluss professioneller Eliten. In der Tat konnten sich nur wenige Beziehungen in der modernen Welt der Anziehungskraft dieser mächtigen Kräfte entziehen.

      Es existierte jedoch eine verdeckte Ausnahme, die für den eigenen Kampf der Frankfurter Schule, dem Druck, der Assimilation und Konformität zu widerstehen, von entscheidender Bedeutung war: die Bindungen persönlicher Freundschaften. Sie dienten als lebenswichtige Sehnen, die der Skelettstruktur des Instituts seine Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verliehen. So konnten die zahlreichen Ortswechsel des Instituts, zu Beginn innerhalb des europäischen, dann des amerikanischen Kontinents, darauf von Kontinent zu Kontinent und wieder zurück, überleben. Für viele deutsche Denker unterschiedlicher politischer Überzeugungen schien das Ideal freundschaftlicher Bindungen eine Perspektive für eine zukünftige ideale Gemeinschaft zu sein, die als sogenannte präfigurale »Utopie kleingeschrieben«7 gedacht werden konnte. Das anschaulichste Beispiel war die außergewöhnliche, praktisch lebenslange Verbindung zwischen Max Horkheimer und Friedrich Pollock.8 In einem Vertrag, den sie als Jugendliche im Jahr 1911 schlossen, verpflichteten sich die Freunde gegenseitig, ihr Leben der Erfüllung eines gemeinsamen Schicksals zu widmen. Die Verbindung erneuerten sie 1935 während des amerikanischen Exils in einem zweiten Vertrag. Pollock erkannte bereitwillig den Vorrang von Horkheimers intellektueller Arbeit an und widmete den Löwenanteil seiner Energie der Verwaltung des unabhängigen Forschungsinstituts, obwohl er auch weiter wichtige Beiträge zu den Wirtschaftsanalysen der Frankfurter Schule verfasste. Pollock sorgte dafür, dass die Forderungen des Direktors Horkheimer umgesetzt wurden. Trotz seiner Ambivalenz, nach dem Krieg nach Europa zurückzukehren, folgte Pollock Horkheimer (und Adorno) und half beim Wiederaufbau des Instituts 1950 in Frankfurt, bevor er sich anschließend in die Schweiz, nach Montagnola zurückzog. Horkheimer und Pollock hatten dort benachbarte Häuser gebaut. Was Horkheimer in einem frühen autobiografischen Roman als sogenannte île heureuse bezeichnet hatte, blieb ein beständiger Mikrokosmos proto-utopischer Befriedigung in einer Welt voller Leid und Ungerechtigkeit.9

      Dank der Veröffentlichung ihrer Korrespondenzen und anderer Archivquellen können wir nun die Bedeutung von Freundschaftsnetzwerken in der Geschichte anderer Mitglieder der Schule sowie ihre persönlichen Beziehungen zu assoziierten Persönlichkeiten wie Siegfried Kracauer, Paul Tillich und Alfred Sohn-Rethel10 erkennen. Horkheimers wachsende Intimität mit Adorno, Marcuses Nähe zu Franz Neumann, die anfängliche Wärme und spätere Distanzierung zwischen Erich Fromm und Löwenthal sind ebenso integrale Bestandteile der Geschichte des Instituts wie die intellektuellen und persönlichen Beziehungen zwischen Adorno und Benjamin. Manchmal spielten Frauen eine wichtige Rolle als Vermittler – Gretel Adorno stand Benjamin besonders nahe, Inge Neumann heiratete Marcuse nach dem Tod ihrer jeweiligen ersten Ehepartner, Felix Weils Ehefrauen gaben Horkheimer und Pollock oft Anlass zur Sorge –, aber im Großen und Ganzen drückten ihre Interaktionen die vorherrschenden homosozialen Beziehungen der Männer ihrer Zeit aus.11

      Eine der langlebigsten und sich gegenseitig unterstützenden Verbindungen knüpften Leo Löwenthal und Herbert Marcuse, die sich kurz vor ihrer Flucht nach Amerika kennenlernten. Obwohl Marcuse Schüler Martin Heideggers gewesen und seine Dissertation über Hegels Ontologie bereits fertiggestellt war, die Heideggers Einfluss zeigte – Adorno publizierte 1932 eine etwas gemischte Rezension in der Neuen Zeitschrift für Sozialforschung –, empfahl Kurt Rietzler, ein Philosoph und ehemaliger Diplomat, der damals Kurator der Universität Frankfurt war, Horkheimer, Marcuse in den Kreis des Instituts aufzunehmen. Bald darauf wurde Löwenthal entsandt, um Marcuse in die neue Zweigstelle des Instituts nach Genf einzuladen. Marcuse hatte Freiburg im Dezember 1932 verlassen, als sich zunehmend herausstellte, dass seine Hoffnungen auf eine von Heidegger betreute Habilitation nicht verwirklicht werden konnten. An dem schicksalhaften Tag, dem 30. Januar 1933, als Hitler Reichskanzler wurde, trat Marcuse offiziell dem Institut bei. Nach einem Jahr in der Schweiz schloss er sich den anderen Institutsmitgliedern in ihrem neuen Zuhause in New York an. Wie aus einem scherzhaften Brief vom 7. Juli 1934 hervorgeht, den Marcuse an Löwenthal sandte, der als letztes Mitglied des Instituts12 Europa verlassen hatte, waren beide bereits enge Freunde geworden. In einer sarkastischen Anspielung lästern sie, es sei eine »Ehre mit dem Direktor [Horkheimer] am Montag in einem Pullman-Schlafwagen nach Lake Placid fahren zu dürfen.«

      In Anbetracht seiner späteren internationalen Berühmtheit ist daran zu erinnern, dass Marcuse in jenen frühen Jahren weniger prominent war. Löwenthal, der 1926 zum Institut kam, war nach 1930 zusammen mit dem Ökonomen Henryk Grossmann einer der Hauptassistenten von Horkheimer. Als die

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