Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen. Peter-Erwin Jansen

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Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen - Peter-Erwin Jansen

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      Adorno sah im Nationalsozialismus eine »kleinbürgerliche Massenbewegung« und stellte davon ausgehend die Hypothese auf, »dass die Anfälligkeit für faschistische Propaganda weniger mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen per se zusammenhänge, sondern dass solche Meinungen als Reaktionen auf psychische Bedürfnisse zu verstehen seien«.1

      Daraus resultierend ging es den an der Studie beteiligten Wissenschaftlern nicht alleine um eine Enthüllung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen, sondern um die Analyse potenziell faschistischer Einstellungen, die auch unter nicht-totalitären – also durchaus auch demokratischen – gesellschaftlichen Bedingungen überdauern und unter bestimmten Veränderungen dieser Gesellschaften ähnliche Einstellungen erneut freilegen können. Was hier als Charakter benannt ist, meint nicht eine unveränderbare Konstante, die, wie es heute in ideologischer Absicht heißt, als »bestimmter Charakterzug einer Volksgruppe« angesehen wird. Was Adorno anspricht, ist ein dynamischer, sich unter bestimmten sozialen Bedingungen verändernder Begriff der Persönlichkeitsstruktur, die auf eine autoritäre Grundhaltung treffen kann. Erst in ständiger Wechselbeziehung von gesellschaftlichen Einflüssen, biografischen Brüchen und gruppenspezifischen Orientierungen etablieren sich individuelle Einstellungen, Meinungen, Haltungen und Wertvorstellungen. Diese werden umso stärker in »autoritäre« Bahnen gelenkt, je früher sich die eigene Persönlichkeitsentwicklung mit fest gefügten Bildern und Vorurteilen abschottet gegen einen offenen Erfahrungshorizont, der darüber die eigenen Veränderungen als Teil seiner Persönlichkeitsentwicklung zulassen könnte und diese Veränderungen dann nicht als Bedrohung empfindet.

      Gegenteiliges findet aber statt, wenn das Individuum eine übermäßige und überhöhte Identifikation mit der eigenen Gruppe gegenüber einer »Fremdgruppe« als Sinnersatz für drohenden Werteverfall oder für einfache Deutungsmuster einer konfliktreichen »flüchtigen Moderne« (Zygmut Baumann)2 einsetzt. Abschottung wird zur Überlebensfrage. Ein Instrumentarium, welches schnell und unkompliziert dabei hilft, ist das Vorurteil. Es erhält eine alles erklärende Kraft und verfestigt irreale Annahmen zu leicht einsetzbaren Sinnkrücken und Erklärungsstützen für reale Missstände. Die Tatsache der leichten und leichtfertigen Verallgemeinerung mithilfe des Vorurteils etwa gegen die Juden ist allein durch (negative) individuelle Erfahrungen nicht zu erklären. Adorno schreibt: »Die objektive Situation des Individuums kommt als Ursprung solcher Irrationalität kaum in Frage«. Obwohl die Erforschung antisemitischer Stereotypen und Vorurteile einen großen Teil der Studie einnimmt und von den ersten Resultaten des »Antisemitismus-Projekts« der Berkeley-Gruppe um Levinson und Sanford bereits unterfüttert war, blieb die Studie nicht auf die Erforschung des antisemitischen Vorurteils beschränkt. Untersucht wurden minoritätenfeindliche Vorurteile, die sich zu ideologischen und charakterologischen Dispositionen verdichten.3

      Lügenpropheten – Prophets of Deceit

      Nun bedarf es derjenigen politischen Propagandisten oder Demagogen, die genau diese Dispositionen ansprechen. Wer ist das? Wie geschieht das? Welche Tricks wenden sie an? Auf welche Voreinstellungen und Grundhaltungen ihrer Gefolgschaft treffen sie real? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der fünfte Band der Studie Prophets of Deceit, der von Leo Löwenthal und Norbert Guterman im Zusammenhang mit den oben erwähnten Vorurteilsstudien erstellt wurde.

      Gesellschaftspolitische Defizite können individuelle Leiderfahrungen hervorbringen, die Stabilität des Individuums bedrohen und sich als Unzufriedenheit bis hin zur Gewalt gegen Minderheiten äußern. Nun geht es dem politischen Propagandisten nicht darum – so Löwenthal –, »das Wesen der besagten Unzufriedenheit rational zu definieren. Vielmehr versucht er jede bei seinem Publikum existierende Desorientierung zu bestärken, indem er alle rationalen Demarkationen verwischt und stattdessen spontane Aktionen vorschlägt«. Diese »spontanen Aktionen« sind umso erfolgversprechender, je klarer zu erkennen ist, gegen wen sich die Aktion richten soll.

      Der »Lügenprophet«, so die Verfasser, reduziere politische und gesellschaftliche Missstände oder soziale Verwerfungen auf ethnische Gruppen, auf personifizierte Feinde. Er betont mantraartig die »notwendige Eliminierung von Personen«, aber nicht die Veränderung der gesellschaftlichen Ursachen. Dort also, wo nach einem »Was ist schuld an der Misere?« gefragt werden müsse, stellen die Demagogen die immer wiederkehrende rhetorische Frage »Wer ist schuld an der Misere?«. Und die Propheten der Täuschung antworten am lautesten: »Wir wissen, wer schuld ist, lasst uns nur machen.« Die Personifizierung des Unbehagens an den herrschenden Verhältnissen löst sich so von der politischen Kritik und der rationalen Argumentation ab und der Gedanke über die politischen und ökonomischen Ursachen tritt völlig in den Hintergrund. An die Stelle rationaler Argumentation über soziale Probleme tritt eine scheinbar einhellige Meinung über die Schuldigen, die schnell von allen geteilt werden kann. An diesem Punkt treffen sich Propaganda und Machtwille des Agitators mit seiner Gefolgschaft. Löwenthal schreibt: »Die Anklagen [des Agitators] beziehen sich zwar auf eine soziale Wirklichkeit, aber nicht in der Form rationaler Begriffe.«4

      Diese emotionalen Sedimente weiß der Agitator besonders in gesellschaftlichen Krisensituationen für seine Zwecke zu nutzen. Er aktiviert, spielt mit individuellen Angstgefühlen, die längst zum Grundbestand des Lebens in modernen kapitalistischen Gesellschaften gehören. Heute sprechen wir von »Entsolidarisierung, von sozialer Entgrenzung, von Exklusion«.5

      Löwenthal nennt diesen Zustand des Menschen im heutigen Dasein: »das große Unbehagen«. Die Mobilisierung der Ängste unter den sich rasant verändernden Lebensumständen und globalen Entwicklungen, ist ein zentrales Motiv der Propaganda. Dem Agitator liegt daran, die Ängste und die Enttäuschungen an die Oberfläche der Unzufriedenen zu spülen, um sie aus ihrer Passivität zu lösen und sie als Instrument gegen die scheinbaren Verursacher zu mobilisieren. Aus Ängsten aufgrund einer unsicheren Situation kann Hass werden auf die scheinbaren Verursacher, die an der eigenen Misere schuld sein sollen. Der Agitator erzeugt das Unbehagen zwar nicht, »aber er verstärkt und verfestigt es, weil er den Weg zur Überwindung der Ursachen versperrt«. Die individuelle Enttäuschung über die vom System vorgegaukelten Glücksversprechen wird gewendet in die gesellschaftliche Lossagung von geteilten Werteorientierungen, gedeutet als Zerfall und Auflösung von quasi naturgesetzlichen Zusammenhängen, die nur zum Abgrund führen können. Daher setzt der Agitator gar nicht auf wirkliche Alternativen, sondern er »verkündet den Untergang«.6

      Die scheinbare Alternative, die er formuliert, beschränkt sich auf ein Entweder-oder. Sie ist nur eine scheinbare, da die Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens reduziert werden auf ein Gegeneinander und nicht auf ein Miteinander. Das ist aber eine unhintergehbare Konstante für friedfertige Gesellschaften und ein grundlegender normativer Wert, der »soziale Kitt« (Adorno), der eine heterogene Gesellschaft zusammenhält: gegenseitige Anerkennung als Form gerechter, gleichberechtigter und materieller Partizipation.

      In der Propagandasprache, so interpretieren die Autoren, seien widersprüchliche gesellschaftliche Verhältnisse so nachhaltig auf die individuell erfahrene Erniedrigung reduziert, dass nur ein autoritärer Befreiungsschlag einen Sieg im Kampf um das Überleben sichern könne. Das verspricht der Agitator und er weiß auch, gegen wen sich das zu richten hat. Daher nimmt die Beschreibung eines Feindbildes in der politischen Agitation einen solch zentralen Stellenwert ein. Die vermeintlichen Einwanderer, Andersgläubige, Fremde, Flüchtlinge, Menschen, die nicht ins Bild der Heteronormativität passen, seien verantwortlich für Gottlosigkeit, moralischen und geistigen Zerfall, für das Auflösen der natürlichen Volksgemeinschaft, wie es auch heute in der neonazistischen und fremdenfeindlichen Propaganda rechtsextremer Gruppen und deren verlängertem parlamentarischen Arm heißt.7

      Der Agitator vermeidet jedoch das Wort »Ausgrenzung«. Er spricht von notwendiger Säuberung, oder wie Löwenthal es nennt: von »häuslicher Reinigung«, die an den alltäglichen Hausputz erinnere, der schließlich in jedem ordentlichen Haushalt notwendig ist. Hier trifft die Propaganda auf die

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