Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen. Peter-Erwin Jansen

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Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen - Peter-Erwin Jansen

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Soldaten, die in der Wehrmacht nur ihre Pflicht erfüllten, egal wie der Befehl auch lautete?13

      Es sind mutige Menschen wie der hessische Staatsanwalt Fritz Bauer, die sich trotz gewaltiger Widerstände in der frühen Phase der Bundesrepublik vehement dafür einsetzen, dass die Verbrechen des NS-Systems nicht verschwiegen und dessen mörderische Schergen zur rechtlichen Verantwortung herangezogen werden sollten. Es drohte die Verjährung von Mord. Die »Aufarbeitung der Vergangenheit« ist politisch weitgehend nicht gewollt. Die gut funktionierenden neuen Systeme, getrieben von einem kapitalistischen Markt, sollten so schnell es geht wieder ins Laufen kommen.

      Theodor W. Adorno hat in seiner Arbeit Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?14 1959 eindrucksvoll herausgearbeitet, wie schwer es sein würde, mit Bildungsmaßnahmen, zum Beispiel gegenseitigem Kennenlernen – sozialarbeiterisch ausgedrückt: interkulturellen Begegnungen –, den erneut auftauchenden antisemitischen Vorurteilen entgegenzuwirken:

      »Ich glaube auch nicht, daß durch Gemeinschaftstreffen, Begegnungen zwischen jungen Deutschen und jungen Israelis und andere Freundschaftsveranstaltungen allzu viel geschafft wird, so wünschbar solcher Kontakt auch bleibt. Man geht dabei allzu sehr von der Voraussetzung aus, der Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könne durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden, während der genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert ist, daß er überhaupt keine Erfahrung machen kann, daß er sich nicht ansprechen läßt. Ist der Antisemitismus primär objektiv-gesellschaftlich begründet, und dann in den Antisemiten, dann hätten diese wohl, im Sinn des nationalsozialistischen Witzes, die Juden erfinden müssen, wenn es sie gar nicht gäbe.«15

      Der Antisemitismus ist keine Charaktereigenschaft irgendeiner bestimmten Volksgruppe! Juden haben auch kein »besonderes Gen«, das sich durch »Selektionsdruck« (Sarrazin) weitervererbt hat und so der Antisemitismus als Reflex darauf biologisch zu begründen versucht wird. Das ist nichts anderes als ein Motiv des dumpfen, tiefbraunen biologistischen Rassismus. Es waren Etienne Balibar und Stuart Hall, die in den letzten Jahrzehnten darauf hinwiesen, dass dieser Biorassismus zwar noch unterschwellig existiere, aber einem »Rassismus ohne Rassen« gewichen sei. Oder, wie es Albert Memmi formuliert hat: »Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.«16

      Längst verschleiern rechtsextreme Gruppierungen ihre rassistischen und nationalistischen Ausgrenzungsideologien mit modernen Begriffen wie Ethnopluralismus oder führen die Eigenständigkeit der Kulturen als Beleg dafür an, das Eigene gegen das vermeintlich Fremde abschotten zu müssen. Schon 1955 schrieb Adorno in Schuld und Abwehr: »Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.«17

      Marcuses Analysen einer »neuen deutschen Mentalität« kommen ohne rassentheoretische Erklärungen aus. Es ist sein Verdienst, dass er Begriffe wie »Rasse« oder »Blut und Boden« auch in modernen Gesellschaften als nicht veraltet interpretiert, sondern diese durchaus als ideologische Sedimente in modernen Gesellschaften abgelagert und auch abrufbar sind.

      »Neue deutsche Mentalität«

      Für Marcuse stellt die »deutsche Mentalität«, die er 1942 konstatiert, eine politische Kategorie dar, die sich auf die uneingeschränkte Politisierung aller gesellschaftlichen Sphären im nationalsozialistischen System bezieht. Zwischen privaten und öffentlichen Bereichen verlieren jede Grenzmarkierungen ihren Sinn. Erziehung, Intimsphäre, Sexualität, Geburt, Familie finden ihre Bedeutung in der NS-Ideologie, für die Volksgemeinschaft. Einhergehend mit dieser Aufhebung sei auch eine normative Rechtfertigung verschwunden, sowohl in der Politik, aber auch im Handeln der einzelnen Menschen – eine »psychologische Neutralität« habe sich über jede humanistische Verhaltensweise gelegt. So »neutral«, dass menschliches Leiden nicht mehr emphatisch wahrgenommen wurde.

      Marcuse schreibt: »Die Deutschen erweisen sich gegenwärtig an gänzlich anderen Werten und Maßstäben, und sie sprechen eine Sprache, die sich von den Ausdrucksformen der westlichen Zivilisation wie auch von denen der einstigen deutschen Kultur grundlegend unterscheidet. Um eine wirksame psychologische und ideologische Offensive gegen den Nationalsozialismus lancieren zu können, müssen wir die neue Mentalität und die neue Sprache eingehend untersuchen.«18

      In seiner Einleitung zu den Feindanalysen verdeutlicht der Frankfurter Soziologe Detlev Claussen den besonderen Zugang der Analysen Marcuses:

      »Die Naziideologie wird weder mit der Realität verwechselt noch wird sie mit Mitteln der klassischen Ideologiekritik bearbeitet; es wird versucht, ihre soziale Funktion zu bestimmen. Deswegen sucht Marcuse auch nach neuen Kategorien: In einer Fußnote schlägt er ›Haltung‹ als Terminus für Mentalität vor. Weder bringt der Nationalsozialismus ein theoretisches Bewußtsein hervor, das in Praxis umgesetzt wird, noch produziert er überhaupt ein an Wahrheit orientiertes Bewußtsein.«19

      Die Schwächen der Weimarer Verfassung

      Deutlich wird, dass sich die »deutsche Volksgemeinschaft« weder aus einem irrgeleiteten Glauben noch einem verblendeten Führerheroismus für die Nazis entschieden hat, sondern es war eine rationale, am Pragmatismus orientierte Entscheidung. Politisch legale Vorteilsnahme durch Vorurteilsbestätigung. Dafür war man bereit, Freiheit gegen Sicherheit zu tauschen. Nachdem die »Gefährder« dieser Sicherheit wie politisch Oppositionelle, engagierte Gewerkschafter und christliche Mahner inhaftiert waren, verabschiedete sich, u. a. mit dem Versprechen auf Vollbeschäftigung und Heroismus, auch die breite Masse der Arbeiterschaft von allen sozialistischen Utopien einer solidarischen Welt. Auf das unterwürfige, nie stark ausgeprägte Selbstbewusstsein des Bürgertums und dessen brüchiges Verhältnis zur Weimarer Demokratie sowie auf seine eigenen Enttäuschungen gegenüber einem Neuanfang und dem Scheitern der Novemberrevolution 1918 weist Marcuse in späteren Äußerungen immer wieder hin. Über den aufkommenden Antisemitismus finden sich dagegen nur wenige Stellungnahmen bei Marcuse. Explizit findet sich dies in jenen Jahren bei Leo Löwenthal, zum Beispiel in Briefen schon 1918 während seiner Militärzeit in Hanau, oder auch in seiner Zeit in Heidelberg, als er dort 1927 mit Frieda Fromm-Reichmann und Erich Fromm eng befreundet war. In seinen Ferienzielen auf den ostfriesischen Inseln, so erinnerte sich Löwenthal, hingen schon ab Mitte der 1920er Jahre die Hinweise »Juden unerwünscht«, so auf Borkum und Norderney.

      Löwenthals 1946 verfasster Artikel Individuum und Terror20, der im Zusammenhang mit seiner Arbeit beim OWI steht, ist in weiten Teilen vor dem Hintergrund der Antisemitismusstudien aus der zweiten Hälfte der 40er Jahre zu verstehen. Als die grausamen Einzelheiten der Tötungsmaschinerie der Nazis sichtbar wurden, sah die Welt, dass der nationalsozialistische Terror Menschen tatsächlich als »leblose Objekte« behandelt hatte. Menschen sind zur Ware geworden, zu einem Verbrauchsgut. Aus den Schilderungen der Überlebenden, die Löwenthal im Auftrag des OWI interviewt, erfährt er, dass die konkreten Individuen zu anonymen Nummern degradiert worden waren, die dann als »nützliche« und »unnütze« Ware in der Vernichtungsmaschinerie verschwanden. »Wer keine Nummer bekam, war Ausschussware und wurde vernichtet«, schreibt Löwenthal in seinem erschütternden Text.21

      Im Namen der »inneren Feinde«, die sich als Teil einer gigantischen jüdischen Weltverschwörung im »gesunden deutschen Volkskörper« eingenistet hatten, diskreditierte die nationalsozialistische Propaganda Prinzipien wie soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Wahlrecht, Gleichheit vor dem Gesetz und Garantien eines gerechten juristischen Verfahrens, die Pressefreiheit und damit auch Ideen einer demokratisch verfassten Gesellschaft, wie sie ansatzweise in der Weimarer Verfassung zu finden waren. Die propagierte Bedrohung durch die inneren und äußeren

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