Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen. Peter-Erwin Jansen
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Löwenthal notiert Zitate aus verschiedenen Reden der Demagogen: »Alle Flüchtlinge […] müssen in die Länder zurückkehren, aus denen sie kamen« und »alle Ausländer und ehemaligen Ausländer müssen deportiert werden«.
Das klingt heute allzu bekannt, auch wenn sich verschiedene rechtsradikale Demagogen mittlerweile um eine moderatere Sprache bemühen und die Feinde vielfältiger geworden sind. Heute sind es nicht nur Juden und Muslime. Es sind Menschen, die nicht in das stromlinienförmige, einfache Weltbild einer wie auch immer »ursprünglichen Zugehörigkeit« zum deutschen Volk passen. Und ich möchte hinzufügen: Wer der Meinung ist, rassistische Hetze, rassistische Gewalt, gar Morde träfen uns alle, hat nicht verstanden, was Rassismus ist. Es trifft nicht uns alle, sondern Menschen, die sich von diesem konstruierten alle in Hautfarbe, Kultur, Religion, sexueller Orientierung unterscheiden! Die zerstörerische Missachtung, dass Menschen durchaus unterschiedlich sind und anders leben, betrifft eben nicht alle!
Als Juden und kritische Intellektuelle wurden Marcuse, Löwenthal, Adorno, Horkheimer und andere Mitarbeiter des Instituts von den Nazis 1933 zur Flucht und ins Exil gezwungen. Die Columbia University in New York war die erste Station in den Staaten. Ebenso für Hannah Arendt, die Beobachterin des Eichmann-Prozesses 1961 in Israel, den sie analysierend zusammengefasst hat in ihrem nicht unumstrittenen Band Die Banalität des Bösen. Sie schreibt in ihrem 1943 publizierten Aufsatz Wir Flüchtlinge: »Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ›Flüchtling‹ gewandelt. ›Flüchtlinge‹ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem Land neu anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren.«8
Knapper werdende Finanzmittel Ende der 1930er Jahre erfordern von den Institutsmitarbeitern, sich nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten in amerikanischen Arbeitszusammenhängen umzusehen. Horkheimer und Adorno verlassen New York 1940 in Richtung Westküste nach Los Angeles. Dort beginnen sie mit ihrer Gemeinschaftsarbeit Dialektik der Aufklärung, präziser formuliert, mit der Arbeit zu Elemente des Antisemitismus.
Enttäuscht darüber, dass Marcuse nicht in der Nähe der Verfasser der Dialektik der Aufklärung in Kalifornien bleiben kann, geht er Ende der 1930er Jahre nach Washington, wo Franz Neumann bereits beim Office of Strategic Services (OSS) arbeitete.9 Dort nimmt Marcuse, vermittelt durch Löwenthal, erst eine Stelle im Office of War Information (OWI), dann ein Jahr später (1941) im OSS an. Mit Neumann erarbeitet er dort den Text Staat und Individuum im Nationalsozialismus. Die Verfasser deuten die Zustimmung weiter Teile der deutschen Bevölkerung zum Nationalsozialismus zentral unter zwei Aspekten: Zum einen biete das NS-System eine neue »wirtschaftliche Sicherheit« und zum anderen ein »Zugehörigkeitsgefühl«, das sich gerade in den Umbrüchen der Weimarer Zeit diffus aufzulösen schien. »Die individuelle Freiheit der präfaschistischen Ära war für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gleichbedeutend mit ständiger sozialer Unsicherheit. Seit 1923 hatte es keine Versuche mehr gegeben, eine wirklich demokratische Gesellschaft zu etablieren. Stattdessen breiteten sich Resignation und Verzweiflung aus. Kein Wunder, dass die Freiheit nur allzu bereitwillig für ein System eingetauscht wurde, das allen deutschen Familien ein sicheres Leben versprach. Der Nationalsozialismus verwandelte das freie in das wirtschaftlich abgesicherte Subjekt, und an die Stelle des gefährlichen Ideals der Freiheit trat die schutzversprechende Realität der sicheren Existenz.«10
Das OSS war eine Forschungsgemeinschaft exilierter Wissenschaftler, meist aus Europa, die das nationalsozialistische Deutschland, dessen Ideologie und Propaganda, gestützt auf Antisemitismus, Rassismus und Ariertum, die Verwobenheit von Politik, Wirtschaft, Militär und Recht – hier zu nennen Franz Neumanns Werk Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944 (1942/1944) – und die Vorbereitung, dann Durchführung des systematischen Massenmords an Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Oppositionellen sowie die Kriegsrhetorik und militärischen Eroberungsfeldzüge untersuchte. Das geschah durch Auswertungen von Reden unterschiedlicher Nazifunktionäre, von Radiobeiträgen, von Propagandaschriften, politischen Publikationen, von Befehlsanordnungen an die SS und SA und administrativen Anweisungen der Nazibehörden.
In den 1940er Jahren erstellten Dossiers identifiziert Marcuse die für den technischen Erfolg notwendigen und in sich logischen Handlungsabläufe, die effizient und wirkungsvoll sein sollten, aber in ihrem Gesamtergebnis zerstörerisch wirkten, als eine »irrationale Rationalität«. Eine Rationalität, die alles an Kriterien von Effizienz, Erfolg und Nützlichkeit messe, folge nur einem pragmatischen Zweck: die Mittel erfolgreich einzusetzen. Letztlich griff im NS-System alles gut ineinander: vom Sammeln der jüdischen Bevölkerung auf den öffentlichen Plätzen – jeder konnte es sehen – und dem Lösen der Fahrscheine für die Deportationszüge über die Kontrolle durch die Schaffner und Lokführer bis zu den Selektionsbeamten an der Rampe und den »Beschäftigten« an den Gaskammern. Schließlich gab es die politische Propaganda der antisemitischen Ausgrenzung, die Gleichschaltung der gesellschaftlichen Sphären, der Aufschwung und die Aufrüstung im militärischen Bereich, alles war durchschaubar. »Technokratie« nannte Marcuse diese Verflochtenheit von Gesellschaft, Politik und Großindustrie in dieser Zeit.
Die Katastrophen des zwanzigsten und 21. Jahrhunderts bestätigen die Aktualität dieser Kritik. Kriege – wir sehen es in Syrien –, die flüchtende und schutzlose Menschen durch die Welt treiben, zur Verhandlungsmasse degradieren, in Lagern isolieren sowie aktuell globale Umweltkrisen, verursacht auch durch den ungezügelten Kapitalismus, bedrohen das Aufklärungsprojekt, das einmal mit der Idee einer vernünftig organisierten und freien Gesellschaft verbunden war.
Neben den politischen und propagandistischen Strategien der Nazis müsse aber noch etwas anderes dazu geführt haben, dass die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung dazu brachte, sich von Hitlers Politik so viel zu versprechen, dass, wenn nicht zu aktiver Unterstützung des Systems, aber doch zu mehrheitlicher Gleichgültigkeit gegenüber den europäischen Juden führte, die dann in den Vernichtungslagern ab Ende 1941/Beginn 1942 vergast, erschossen oder erschlagen wurden.
Im Zentrum der Feindanalysen steht der Text »Die deutsche Mentalität – Memorandum zu einer Untersuchung über die psychologischen Grundlagen des Nationalsozialismus« und im Untertitel heißt es weiter etwas zu optimistisch »und die Möglichkeiten ihrer Zerstörung«, datiert vom Juni 1942.11
Diese Möglichkeiten scheinen bei Marcuse schon sehr früh in realistischen Pessimismus umzuschlagen. So schreibt er am 16. August 1944 an Max Horkheimer: »Wenn wir wüßten, dass mit dem Zusammenbruch Deutschlands die ›bösen Mächte‹ eliminiert wären, dann wäre es tatsächlich ein heller Horizont, der sich vor uns abzeichnete. Aber wir wissen es besser und alle Anstrengungen können vergebens sein, sogar für die Generationen, die noch kommen. Wie auch immer, Wunder können geschehen. So fühle ich es. Was wir hier (im OSS) tun können, um eine halbwegs sensible Politik auf den Weg zu bringen, tun wir, und wenigstens einige Dinge scheinen in das Denken und Tun der ›jeweiligen Verantwortlichen‹ einzudringen.«12
Letztlich kapitulierte Marcuse vor der Weigerung der amerikanischen Politik, die Empfehlungen zur Entnazifizierung zu übernehmen. Er verließ das OSS, das dann am 18. September 1947 durch den Central Intelligence Act, vom CIA abgelöst wurde.
Wie wir heute wissen, verlief während der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland die Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen nur schleppend. Die Politik hatte weitgehend kein Interesse,