Wunschleben. Vera Nentwich
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Vera Nentwich
Wunschleben
Roman
Roman
I
Sie lächelt sich an und sieht einen Mann. Anja schüttelt den Kopf, doch der Mann dort im Spiegel verschwindet nicht. Fast vier Jahre ist es nun her, dass sie alles unternommen hat, damit ihr Körper die Merkmale einer Frau bekommt. Sie wollte diesen Mann nie wieder sehen, doch er verschwindet nicht. Sie greift zum Lippenstift und zieht ihre Lippen nach. Sie sind zu dünn. Dann zupft sie an den Haaren, die sorgsam frisiert sind, um die hohen Geheimratsecken zu verbergen. Wieder betrachtet sie das Spiegelbild. Der Mann ist weiblicher geworden, aber verschwunden ist er nicht. Sie verlässt das Bad, streift ihren Mantel über und nimmt die bereitliegende Einkaufstasche. »Käse«, denkt sie, während sie die Wohnungstür zuzieht. »Käse muss ich auch noch besorgen.«
Das Neubaugebiet, durch das sie geht, ist erst vor einigen Jahren entstanden. Hier, wo ordentliche Backsteinhäuschen mit akkurat gepflegten Vorgärten sich aneinanderreihen, wohnen zumeist Familien. Die Väter arbeiten in der nahen Großstadt und die Mütter hüten die Kinder. Am Tag stehen nur vereinzelt die Zweitwagen vor den Türen der Eigenheime. Abends füllen sich dann die Stellplätze und Garagen mit den größeren Karossen.
Anja nimmt gerne den Weg durch den Park mit dem unvermeidlichen Spielplatz, der aber heute leer und still daliegt. Im kleinen Teich gegenüber spiegelt sich die Sonne. Automatisch suchen ihre Augen nach dem Entenpärchen, das sonst immer auf sie zugeschwommen kommt. Aber nicht dieses Mal. Es scheint überhaupt kein Lebewesen hier zu sein. Lediglich der etwas frische Wind umspielt ihre nylonbestrumpften Beine. Eigentlich eher Hosenwetter. Aber sie hasst Hosen. Hosen sind männlich. »Allerdings auch warm«, denkt sie missmutig. Im Supermarkt nimmt sie sich einen Einkaufskorb, geht zum Gemüse- und Obststand und packt Äpfel fürs Frühstücksmüsli in eine Plastiktüte. An der Kühltheke fällt ihr der Käse wieder ein. Sie legt ein bereits abgepacktes Stück Emmentaler und mittelalten Gouda in Scheiben neben den Beutel mit den Äpfeln. Nachdem sie noch Joghurt und Butter in den Korb gelegt hat, denkt sie darüber nach, ob sie sich zum Abendessen etwas Besonderes gönnen sollte. Sie beantwortet diese Frage mit Ja und entscheidet sich für italienische Antipasti. Vor den beiden Kassen hat sich jeweils eine Schlange gebildet. Sie entscheidet sich für die rechte.
Vor Anja steht ein Mann mittleren Alters. Verstohlen betrachtet sie seine Einkäufe. Brot, Salami, Mettwurst, Bier und eine Dose Eintopf. Definitiv ein Single.
»Guten Tag«, sagt die Kassiererin, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Aber Anja versucht ohnehin, Blickkontakt zu vermeiden, während sie ihre Einkäufe gleich vom Band in der Tasche verstaut. Sie hasst dieses kurze Zucken im Blick des Gegenübers, das die Zweifel an ihrem Äußeren ausdrückt. Die Unsicherheit, mit der die Leute sie anschauen. Sie wissen nicht, ob sie wirklich eine Frau oder einen Mann vor sich haben.
»Du wirst nie die Frau sein, die du sein willst! Du wirst immer anders sein, immer ein Freak!«, sagen ihr die Blicke der Menschen. Deshalb hält sie sich lieber fern von ihnen und kann zumindest in ihrer Vorstellung die Frau sein, die sie sein möchte.
»11,58 €«
Anja hält das Portemonnaie schon in der Hand, kramt die Münzen heraus und legt den abgezählten Betrag auf das Band.
Wortlos nimmt die Kassiererin das Geld und händigt im Gegenzug den Bon aus. »Vielen Dank für Ihren Einkauf«, sagt sie noch mechanisch, während sie sich bereits der nächsten Kundin zuwendet.
»Tschüss«, erwidert Anja. Aber das ist nur für sie hörbar.
Zurück geht sie nicht durch den Park, sondern bleibt auf der Straße. Das Haus, in dem sie lebt, ist bereits von Weitem sichtbar. Es ist das einzige Mehrfamilienhaus unter lauter Eigenheimen und Doppelhaushälften. Zwölf Parteien, aufgeteilt auf vier Etagen, die meisten sind Eigentümer. Anja wohnt nur zur Miete und muss somit nicht an Eigentümerversammlungen teilnehmen oder sich um irgendwelche Modernisierungen kümmern. Außer den gelegentlichen Begegnungen im Hausflur, bei denen sie ein neutrales »Guten Tag« haucht, hat sie keinen Kontakt zu ihren Nachbarn. Einmal hatte der alleinstehende Herr im Parterre ein Paket für sie angenommen und ihr einen Zettel in den Briefkasten gelegt. Als sie vom Einkaufen zurückgekommen war, hatte sie bei ihm geklingelt und war überrascht gewesen, dass er sie gleich mit Namen begrüßte. »Hallo, Frau Köhler, hier ist Ihr Paket. Ist hoffentlich etwas Schönes«, hatte er gesagt.
Sie hatte das Paket genommen, sich kurz bedankt und war rasch die Treppe nach oben gelaufen.
Anjas Leben verläuft in geschützten Bahnen. Alle Brücken zum Bisherigen hat sie gekappt. Sie wollte die Vergangenheit vergessen, ihr falsches Leben. Stattdessen wartete ein neues Leben auf sie. Eins, das sie sich immer gewünscht hat. Sie war jetzt Anja, nur Anja. Nichts und niemand sollte daran zweifeln oder es gar infrage stellen.
Zuerst war jeder Schritt ein Abenteuer gewesen. Wie ein zartes Rinnsal, das sich über den Sand schlängelt, hatte sie zaghafte Schritte gemacht und das Leben ertastet. Mit der Zeit hatte dieses Rinnsal ein kleines Bachbett gegraben, das ihr Halt bietet. Sie kann in diesem Graben aus Bewährtem bleiben und das Risiko, dass jemand kommt und ihren Traum zerstört, ist gering.
Anja wohnt auf der zweiten Etage. In die rechte Wohnung ist vor Kurzem jemand neu eingezogen. Sie hat die Bewohner aber noch nie gesehen. Bisher kennt sie nur das selbstgemachte Türschild, in das »Bettina Mertens« krakelig in den Ton gekratzt wurde. Auf der linken Seite wohnt eine ältere Dame, die nur noch selten ihre Wohnung verlässt und samstags immer Besuch von ihren Enkeln bekommt, die auf der Treppe jede Menge Lärm verursachen. Einen Aufzug gibt es nicht. Anja hat sich oft gefragt, wie man ein modernes Haus ohne Aufzug bauen konnte. Wo doch alle älter werden, und eine Treppe im Alter zu einem unüberwindbaren Hindernis werden kann.
Heute denkt sie mehr an die Antipasti, die sie sich gönnen möchte. Dazu ein Glas Rotwein und dann den Krimi weiterlesen, der gerade eine so spannende Wendung nimmt. Sie greift in das Seitenfach ihrer Tasche, in dem sich normalerweise der Wohnungsschlüssel befindet. Es ist leer. Sie langt tiefer hinein, spreizt den Reißverschluss, aber der Schlüssel ist nicht da.
Das konnte doch nicht sein. Sie hatte ihn hier reingelegt. Also musste sie ihn irgendwo verloren haben. Anja geht in Gedanken den Weg, den sie zurückgelegt hat, noch einmal ab. Nein, sie kann den Schlüssel nicht verloren haben. Der Reißverschluss war ja geschlossen. Wie hätte der Schlüssel da herausfallen können? Es gibt nur eine Erklärung. Sie muss ihn vergessen haben. Er liegt wahrscheinlich auf dem Sideboard, auf dem er immer liegt.
Fassungslos starrt Anja die verschlossene Tür an. Langsam steigt Panik in ihr auf. Ihr Herz pocht. Solche Ereignisse sind in dem Bach ihres Lebens nicht vorgesehen. Überraschungen mag sie nicht. Mehr noch, sie machen ihr Angst. Jetzt hier zu stehen, im Wind vor dem Haus, und nicht zu wissen, wie sie in ihre Wohnung kommen soll, ist eine Herausforderung. Sie fühlt sich ungeschützt, angreifbar und ihres sicheren Hafens beraubt. Zu allem Überfluss reißt der Wind an ihrem dünnen, kunstvoll drapierten Haaransatz und droht, sie noch angreifbarer zu machen.
Anja sieht wieder zu ihrer Tasche, durchsucht sie erneut, kramt alle Einkäufe heraus und legt sie auf die Treppenstufen. Ihr Handy hat sie natürlich auch nicht dabei. Früher gab es wenigstens noch Telefonzellen. Aber wen hätte sie schon anrufen sollen?
»Hallo, Frau Köhler.«
Die Dame aus dem ersten Stock steht in der Haustür.
»Wollen Sie herein?«
»Oh ja, danke.«