Wunschleben. Vera Nentwich
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Plötzlich verabschiedet sich das Licht im Treppenhaus und sie erschrickt. Ihre Augen brauchen eine gefühlte Ewigkeit, bis sie wieder Konturen wahrnehmen können. Das schwache rote Lämpchen am Lichtschalter erscheint ihr wie ein rettender Leuchtturm bei tobender See. Wieder Licht. Was tun? Sie muss einen Schlüsseldienst rufen, aber das Handy liegt wahrscheinlich friedlich neben dem vermissten Schlüsselbund.
»Da liegt’s ja gut«, knurrt sie. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, sie muss bei einem ihrer Nachbarn klingeln und darum bitten, den Schlüsseldienst rufen zu dürfen.
Der Bach in ihrem Inneren trifft auf ein Hindernis. Eine Mauer. Er weiß, es gibt kein Durchkommen, dennoch drückt er verzweifelt gegen sie, bis er sich schließlich aufbäumt und den Vorsprung überwindet. Sie entscheidet sich, bei der älteren Dame zu klingeln. Aus ihrer Wohnung hört sie Stimmen. Als sie näher an die Tür kommt, bemerkt sie, dass die Gespräche aus dem Fernsehen stammen. Die nachmittägliche Seifenoper.
Sie klingelt. Es tut sich nichts. Sie klingelt noch einmal. Immer noch nichts. Anscheinend hört die Dame nicht mehr gut, und das Klingeln erhält keine Chance, die Schicksale der Seifenoper zu übertönen. Also muss Anja es bei den Unbekannten versuchen. Wieder drückt sie einen Klingelknopf. Kurz darauf vernimmt sie Schritte und eine Stimme, die in die Sprechanlage spricht. Anja klopft, um deutlich zu machen, dass sie direkt vor der Wohnungstür steht. Eine Bewegung am Türspion, und dann öffnet sie sich.
Grüne Augen schauen sie fragend an. Sie gehören zu einer Frau, Mitte dreißig, kurzes rotblondes Haar, ein paar Sommersprossen. Sie hält ein Geschirrhandtuch in der Hand.
»Entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Anja Köhler und ich bin Ihre Nachbarin«, beginnt Anja zögerlich, dabei zeigt sie auf ihre verschlossene Wohnungstür. Die grünen Augen schauen sie weiter fragend an. »Ich habe mich ausgesperrt und wollte fragen, ob ich bei Ihnen kurz einen Schlüsseldienst anrufen dürfte.«
»Mama, wer ist das?«, tönt es aus einem Zimmer und ein kleiner, ebenfalls rothaariger Junge kommt angerannt, hält sich am Bein der Mutter fest und starrt Anja an.
»Oh, entschuldigen Sie, das ist mein Sohn. Jonas, sag höflich guten Tag.« Jonas reagiert nicht und starrt weiter.
»Ach, kommen Sie doch herein. Natürlich können Sie den Schlüsseldienst anrufen. Entschuldigen Sie die Unordnung. Jonas, ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Figuren nicht im Flur aufstellen. Das Telefon ist dort und das Telefonbuch liegt daneben. Nun komm, wir räumen die Figuren weg.«
Sie verschwindet mit Jonas in einem Nebenraum. Anja sucht im Telefonbuch nach einem Schlüsseldienst und wählt die Nummer. Ein etwas brummiger Mann mit Akzent meldet sich am anderen Ende. Nachdem sie ihm die Situation erklärt und die Adresse durchgegeben hat, versichert er, dass er in einer Stunde da sein wird. Anja legt auf und will gerade die Wohnung verlassen, als die Frau wieder in den Flur kommt.
»Haben Sie einen Schlüsseldienst erreicht?«
»Ja, er kommt in einer Stunde«, antwortet Anja.
»Oh, wo wollen Sie denn so lange hin? Bleiben Sie doch! Ich mache uns einen Kaffee. Es ist schön, dass ich eine Nachbarin kennenlerne.«
Anja liegt bereits eine Ausrede auf der Zunge, um nicht hierbleiben zu müssen, aber der Gedanke, eine Stunde im Treppenhaus zu warten, ist nicht wirklich einladend. Also folgt sie der Handbewegung der Frau und gelangt ins Wohnzimmer.
»Ach, legen Sie doch Ihren Mantel ab.«
Stimmt, sie trägt ja immer noch den Mantel. Nun fallen ihr auch noch die Einkäufe ein, die vor ihrer Wohnungstür stehen.
»Ach, ich habe auch noch meine Lebensmittel im Treppenhaus stehen.«
»Wie, bitte?«
Die grünen Augen schauen wieder fragend. »Ich war einkaufen, die Tasche steht noch im Treppenhaus«, erklärt Anja.
»Hoffentlich verdirbt da nichts. Holen Sie doch die Taschen herein, und ich lege die frischen Sachen in meinen Kühlschrank, solange sie warten.«
Anja gibt ihr den Mantel, holt die Einkaufstasche und überreicht der Frau den Käse und den Joghurt.
»Ah, Antipasti«, sagte die Frau, als ihr Blick auf die eingekaufte Auswahl fällt. Schnell macht Anja die Einkaufstasche zu und stellt sie in die Diele.
»Wie mögen Sie Ihren Kaffee?«
»Nur Milch, bitte.«
Anja fühlt sich unwohl. Unsicher blickt sie durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Die Einrichtung ist schlicht und modern. Einige Spielzeuge liegen auf dem Boden, Zeitschriften bedecken den Couchtisch, in der Ecke stehen ein Bügelbrett und ein Wäschekorb.
»Setzen Sie sich doch.«
Die Frau weist auf die Couch. Anja setzt sich auf die Kante und versucht, die Knie zusammenzupressen. Ihre Gedanken kreisen darum, wie sie sich wohl benehmen muss und ob sie die Sitzhaltung länger durchhalten kann.
Die Frau bringt den Kaffee, stellt die Tasse vor Anja ab und gießt ein. »Ach, ich bin ja so unhöflich!«
Die Frau streckt ihr die Hand entgegen. »Ich heiße Bettina Mertens.«
Sie lächelt und Anja gibt ihr kurz die Hand.
»Es ist wirklich schön, dass wir uns mal treffen. Jonas und ich sind ja gerade erst eingezogen, und ich kenne hier noch niemanden. Wie lange wohnen Sie schon hier?«
»Seit vier Jahren«, antwortet Anja und da beginnt die Nachbarin auch schon zu erzählen, dass sie sich von Jonas’ Vater getrennt hat, weil der Schwiegervater Besseres für seinen Sohn wollte, und der sich nicht eindeutig für sie und Jonas entscheiden konnte. Dass die Familie ihr dann eine großzügige Unterhaltszahlung angeboten hat, wenn sie wegziehen würde, und man ihr auch diese Wohnung gekauft hätte.
Anja ist erstaunt, dass Bettina einem fremden Menschen gleich bei der ersten Begegnung so viel Persönliches von sich erzählt. Wie reagiert man darauf? Unsicher nippt sie gelegentlich an ihrem Kaffee, der mittlerweile schon kalt ist. Aber sie wagt es auch nicht, sich nachzuschenken oder darum zu bitten, deshalb sitzt sie still auf der Couchkante und hofft, dass der Schlüsseldienst endlich klingelt.
»Und was hat Sie in diese Stadt getrieben?« Frau Mertens schaut sie fragend an.
Ich wollte weit weg von zuhause, sollte sie sagen. Aber diese Antwort würde weitere Fragen auslösen, und das will sie auf jeden Fall vermeiden.
Gebrüll erlöst sie. Jonas stürmt herein und klettert auf Bettinas Schoß. Wieder starrt er Anja an.
»Wer bist du?«
»Eure Nachbarin, Anja«
Kinder machen ihr Angst. Sie sind unberechenbar und sagen, was sie denken. Anja sieht Jonas an, dass ihn etwas beschäftigt.
»Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«, platzt es aus ihm heraus.
»Was stellst du für Fragen?«, ermahnt ihn seine Mutter. »Entschuldigen Sie! Kinder ...«
Anja sitzt immer noch bewegungslos da. Eine quälende Pause entsteht,