Wunschleben. Vera Nentwich
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Eine Menschenmenge schart sich um den Eingang zum Zelt. Unzählige Männerblicke taxieren die beiden ankommenden Frauen. Anja versucht, den Blicken auszuweichen, und drängt sich mit gesenktem Kopf hinter Bettina durch die Reihen, die sich magisch zu öffnen scheinen. Vielleicht sehen die Männer sie ja nicht, wenn Anja sie nicht anschaut. Im Zelt ist es heiß, stickig und voll. Eine Band spielt Cover-Songs und vor der Bühne wabert die Menge leicht im Takt der Musik. Dort muss wohl der Tanzbereich sein. Zum Glück steuert Bettina die Theke an.
»Was möchtest du trinken?«, schreit Bettina ihr ins Ohr.
»Ein Alt!«, schreit sie zurück. Nachdem Bettina ein Glas Weißwein und ein Bier ergattert hat, erkämpfen sie sich einige Zentimeter eines Stehtisches, um die Getränke abzustellen. Eine Gruppe aus Männern und Frauen steht um den Tisch herum. Einzelne nippen gelegentlich an den Getränken und bewegen zaghaft die Finger im Takt der Musik, die eine Unterhaltung unmöglich macht. Also stehen sie genauso schweigend dort und lassen die Blicke durch das Zelt schweifen. Die Band stimmt I Will Survive an.
»Das ist mein Lieblingssong. Komm, lass uns tanzen gehen.« Bettina zieht an Anjas Ärmel und zwängt sich durch die Menschen in Richtung Tanzfläche. Es ist nicht genau zu erkennen, wo diese beginnt. Selbst direkt vor der Bühne stehen Männer, die keinerlei Anzeichen von Tanzbewegungen machen, in Gruppen zusammen und mit Biergläsern in der Hand.
Anja und Bettina drängeln sich durch und beginnen, sich im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten zur Musik zu bewegen. Anja bereut es, die Handtasche mitgenommen zu haben. Sie ist unhandlich und stößt ständig jemanden an, der sie dann böse anschaut. Bettina hat natürlich keine Handtasche mitgenommen und sie stört das alles nicht. Sie ertanzt sich einen freien Platz und singt lauthals den Refrain des Liedes mit.
»Au!« Der Mann rechts neben Anja macht ein schmerzverzerrtes Gesicht.
»Oh, entschuldigen Sie!« Anja zieht erschrocken ihre Handtasche zu sich und macht nur noch ganz kleine Bewegungen.
»Schon gut, es ist einfach verdammt eng hier. Ich habe Sie bestimmt auch getreten.« Der Mann lächelt.
»Nein, nein, es ist nichts passiert«, sagt Anja eilig und entschließt sich, die Tanzbemühungen ganz einzustellen. Bettina hat sich zwischenzeitlich weiter in die Mitte vorgekämpft, und Anja kann nur noch ihre roten Haare und gelegentlich ihre Arme, die sie nach oben reckt, in der Menschenmenge erkennen. Unsicher steht Anja nun da.
»Es ist zu eng zum Tanzen, nicht wahr?« Der Mann neben ihr schaut sie freundlich an. Anja bemüht sich, zu lächeln, und nickt. Aus der Gruppe, zu der der Mann wahrscheinlich gehört, fragt jemand nach den Getränkewünschen.
»Was trinkst du?«, fragt der Mann.
Sie überlegt kurz, nach ihrem noch halbvollen Bierglas zu suchen, das irgendwo stehen muss. Aber das wird sie nie finden.
»Ein Alt«, sagt sie stattdessen und ist überrascht, wie souverän sie das sagen kann. Sie lächelt, weil kaum etwas anderes möglich ist. Ihr Blick schweift umher, unsicher und möglichst direkten Blickkontakt vermeidend. An die hundert Menschen drängen sich im Zelt zu einer einzigen großen Menschentraube zusammen. Nein, es müssen weit mehr sein. Die meisten stehen einfach so da. Ihre Gesichter sind irgendwie ausdruckslos. Fast nicht vorstellbar, dass es ihnen Spaß macht, hier zu sein. Die Gruppe um sie herum besteht aus mehreren Männern, die alle in den Vierzigern zu sein scheinen. Auch sie schauen schweigend in die Runde und halten, sofern vorhanden, ihr Bierglas in der Hand. Das Gruppenmitglied mit den Getränken erscheint, und es kommt etwas Bewegung in die Runde. Wortlos werden die Biere herumgereicht und Anja bekommt ein Alt hingehalten. Vorsichtig greift sie zu und wartet nun ab, wer die Runde antrinkt. Der Spender hebt das Glas, alle anderen prosten ihm zu und nehmen den ersten Schluck. Anja tut es ihnen nach. So steht sie nun da. Hoffend, man möge ihr die Unsicherheit nicht allzu sehr ansehen. Manchmal, wenn sich die Blicke zufällig mit denen des Mannes neben ihr treffen, versucht sie zu lächeln. Ein freundliches Lächeln, ein weibliches Lächeln möchte sie zeigen. Keine Ahnung, ob es geklappt hat. Es spricht keiner. Hoffentlich wegen der Musik und nicht, weil man über sie nachdenkt und irritiert ist. Die Band kündigt eine Pause an und die Menschen, die bisher getanzt haben, strömen zur Theke. Bettina kommt strahlend auf sie zu. Sofort kommt Leben in die Männerrunde.
»Bring der jungen Dame doch mal etwas zu trinken«, raunzt der eine Mann dem Spender der letzten Runde zu.
»Kommt sofort. Was hätten Sie denn gerne?«, wendet dieser sich an Bettina.
»Weißwein«, antwortet sie und schon setzt sich der Mann in Bewegung.
Ist Altbier unweiblich? Anja grübelt darüber nach. Sie käme nie auf die Idee, in einem Schützenzelt Weißwein zu bestellen. Alles hier ist Bieratmosphäre. Aber vielleicht sollte sie nun als Frau auch Weißwein bestellen? Vorsichtig schaut sie sich um, ob andere Frauen Bier trinken, und ist sehr erleichtert, als sie feststellt, dass sie nicht die einzige ist. Nach überraschend kurzer Zeit erscheint der Getränkespender mit einem Glas Weißwein und reicht es Bettina. Alle Männer prosten ihr mit großen Gesten zu. Diese schenkt dem Spender und gleich allen anderen Herren in der Runde ein Lächeln und plaudert ungezwungen los. Plötzlich drehen alle Anja den Rücken zu und schenken Bettina ihre ganze Aufmerksamkeit. Und auch Anja ist von ihr eingenommen. Wie bewundernswert locker Bettina ist. Man merkt ihr an, wie sehr ihr dieses Spiel Spaß macht. Anja würde gerne genauso auftreten, aber sie versteht nicht das Geringste von der Magie, die da gerade direkt vor ihren Augen wirkt. Es scheint, als ob ein unsichtbarer Magnet die Aufmerksamkeit der Männer auf Bettina zieht. Die wiederum schenkt mal ein Lächeln nach rechts, greift kurz ins eigene Haar und sieht wieder nach links. Alles führt dazu, dass die Herren sie umringen. Anja macht einen Schritt zurück und beobachtet das Schauspiel genauer. Diese Automatismen zwischen Mann und Frau waren und sind ihr ein Rätsel. Es soll ja etwas mit den Pheromonen zu tun haben, die unbewusst ausgesendet werden und im Gegenüber entsprechende Reaktionen auslösen. Sie selbst sendet wahrscheinlich männliche Pheromone aus. Der Gedanke bedrückt sie und lässt etwas Neid aufkommen.
Der Abend schreitet voran. Die Männerrunde gibt reihum eine Runde aus, und Anja auf eine erkleckliche Anzahl an Bieren. So viel hat sie schon lange nicht mehr getrunken. Mit achtzehn im Karneval vielleicht, als sie noch dachte, sie könnte ein Mann sein, und versucht hatte, eine Freundin zu finden. Langsam tun ihr die Füße weh und sie ist müde. Sie würde gerne nach Hause gehen, aber Bettina scheint daran noch keinen Gedanken zu verschwenden. Ganz im Gegenteil. Sie macht den Eindruck, als würde sie sich pudelwohl im Kreis der Männer fühlen und die Aufmerksamkeit, die man ihr entgegenbringt, sehr genießen. Anja schweigt und tritt von einem Fuß auf den anderen, um sie ein wenig zu entlasten, aber ganz kann sie ihre Müdigkeit nicht verbergen.
»Wenn du nach Hause möchtest, dann sagst du es, ja?«
»Du hast noch so viel Spaß und den will ich dir nicht verderben.«
»Ich bin jetzt auch müde.