Anleitung für Simulanten. Gisbert Roloff
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Wie allerdings in unserer zivilisierten Welt das Spiel der Täuschung funktioniert, lässt sich besonders gut am Beispiel einiger Prominenter zeigen.
Hombre muerto caminando: Simulierte Gebrechlichkeit
Santiago de Chile, 3. März 2000. Tumult auf dem Vorfeld des Flughafens. Hohe Militärs, Journalisten und handverlesene Getreue erwarten einen Gast, der die Volksmeinung spaltet: Für die einen ist er der Retter des Vaterlandes, für die anderen ein Verbrecher und Massenmörder, ein hombre muerto caminando, ein Mann also, der Ansehen und Einfluss verloren hat, ein Scheintoter. Erwartet wird General Augusto Pinochet, 84 Jahre alt, unter Salvador Allende Oberbefehlshaber des chilenischen Heeres, der nach einem Militärputsch im Jahr 1973 die Herrschaft an sich riss und Chile bis 1990 als Diktator regierte. Seit 1998 stand er in London unter Hausarrest; dorthin hatte er sich zu einer medizinischen Behandlung begeben. Jetzt wird der mit Spannung Erwartete im Rollstuhl aus dem Flugzeug herausgerollt. Ein Helfer schiebt den General unter den Klängen deutscher Marschmusik auf chilenischen Boden. Beifall der geladenen Getreuen brandet auf. Der 84-Jährige wirkt gerührt und erleichtert. Er lächelt verschmitzt und erhebt sich zur Verblüffung aller Anwesenden aus seinem Rollstuhl. Muerto ist er keineswegs. Seine ersten Worte: „Hier weht ein anderer Wind.“
Was war geschehen? Großbritannien hatte Augusto Pinochet aus humanitären Gründen nach Chile heimkehren lassen. Willfährige Gutachter hatten ihm Prozessunfähigkeit bescheinigt, ohne dass ein Psychiater hinzugezogen wurde. Das hätte die gängige Praxis allerdings verlangt. So hat Pinochet mit seinem simulierten Gebrechen die gesamte westliche Welt an der Nase herumgeführt. Und obwohl unter seiner Herrschaft Tausende seiner chilenischen Landsleute verschleppt, gefoltert, getötet wurden, blieben ihm dank seiner Pokerface-Gerissenheit und seiner (vermutlich hoch bestochenen) Gutachter Gerichtsverhandlung, Verurteilung und Strafe bis zu seinem Tode erspart. Demjenigen, der chilenische Flüchtlinge oder gar chilenische Folteropfer kennengelernt hat, muss es den Atem verschlagen.
Ein „vergessenes“ Todesurteil
Hans Karl Filbinger, zwischen 1966 und 1978 Ministerpräsident von Baden-Württemberg, „vergisst“ ein Todesurteil, das er als Marinerichter in der NS-Zeit gefällt hat. Sarkastisch fragte der SPD-Politiker Egon Bahr seinerzeit: „Wie viele Menschen muss einer hingerichtet haben, um einen von ihnen vergessen zu können?“
Hier interessiert die Frage: Handelt es sich wirklich um Vergessen oder um eine wohl kalkulierte, gezielt eingesetzte Gedächtnisstörung? Dies ist bis heute nicht überprüfbar. Selbst der Tatbestand des Vergessens wäre durchaus erschreckend, denn gerne vergessen wir das, was wir nicht für besonders wichtig halten. Ein Todesurteil eine Nebensache?
Oder doch eher eine Selbsttäuschung, wie Friedrich Nietzsche sie 1886 in Jenseits von Gut und Böse skizziert hat:
„Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“
Oder Simulieren einer Gedächtnisstörung als bewusst eingesetzte Strategie, um der Verantwortung zu entgehen? Vergessen, Verdrängen, Simulieren? Wer kennt sich aus? Wahr ist, dass es (unvollständige) Akten gibt, wahr ist, dass nicht einmal die Getreuen volle Gewissheit haben, weder Bruno Heck noch seine Tochter Susanna Filbinger-Riggert, die beide Bücher zu diesem Fall geschrieben haben. Wahr ist auch, dass ein bundesdeutsches Gericht dem bekannten Dramatiker Rolf Hochhuth gestattet hat, Hans Karl Filbinger „einen furchtbaren Juristen“ zu nennen. Nicht ganz abweisen lässt sich jedoch, dass die selbst ernannten moralischen Instanzen zu moralischer Selbstüberschätzung neigen können. Wie wir alle übrigens – eine typische Form der Selbsttäuschung.
Des Teufels Baumeister:
Ein Künstler der Dissimulation
Nein, krank wurde Albert Speer nicht, als er 1945/1946 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess Rede und Antwort stehen musste. Hitlers ehemaliger Rüstungsminister und Generalbauinspektor, Planer der neuen Welthauptstadt Germania gab sich manierlich und kooperativ. Er berief sich auch nicht auf Gedächtnisstörungen, ganz im Gegenteil. Zu gern berichtete er Einzelheiten aus dem Privatleben der Nazigrößen, vor allem der toten. Schließlich gehörte er zum engsten Kreis um den „Führer“ und verbrachte viele Sommer zusammen mit Frau und Kindern auf Hitlers Berghof in Berchtesgaden. Allerdings: Trotz dieser Nähe gab er vor, von den Verbrechen des Dritten Reichs nichts gewusst zu haben. Psychologisch geschickt bekannte er sich zu einer gewissen Mitschuld am NS-System, bestritt jedoch eine direkte Beteiligung an den monströsen Untaten. Da Albert Speer aus einer gut situierten Mannheimer Architektenfamilie stammte und in großbürgerlichem Milieu aufwuchs – mit französischer Gouvernante, mit Kindermädchen und Chauffeur – konnte er die Richter nicht nur durch sein gutes Aussehen, sondern auch durch seine Manieren und seine gepflegte Sprache beeindrucken. Obwohl er seit 1931 zu Hitlers Gefolgschaft gehörte, nahmen sie ihm ab, in die Pläne zur Ermordung der europäischen Juden nicht eingeweiht worden zu sein.
In Nürnberg retteten ihm seine geschmeidige Argumentation, seine pauschale Verurteilung des Nazi-Regimes und seine genialen Lügengespinste das Leben. Unverfroren stilisierte er sich als Künstler und Technokrat, der an Deportation, Sklavenarbeit, Ausrottung nicht beteiligt war. Seine Richter, selbst eher bürgerlicher Herkunft, fielen auf seine Dissimulationskunst herein: So wurden Speer zwar Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nicht aber Völkermord zur Last gelegt.
Das konnte ihm nur gelingen, weil der damaligen zeithistorischen Forschung noch nicht bekannt war, was später entdeckte Quellen zutage förderten: Sie zeigten ihn als einen Meister der Täuschung, der das Spiel, eine Fassade aufzubauen und aufrechtzuerhalten, exzellent beherrschte. So galt er als Gentleman-Nazi und stiller Retter vor Hitlers Befehl der verbrannten Erde.
Zwei Dinge muss man an Albert Speer wirklich bewundern: seine Intelligenz und sein Gedächtnis. Denn wer ein solches Gebäude aus Wahrheit und Lüge errichtet, muss alles genau durchdenken und darf nicht vergesslich sein. Und ein Glückspilz, ein Vorzugskind des Schicksals, war er auch. Schließlich legte der junge Historiker Matthias Schmidt erst kurz nach Speers Tod die Dokumente vor, die dessen Beteiligung am Völkermord bewiesen. Wie Susanne Willems inzwischen sorgfältig aus den Archiven zusammengetragen hat, ließ Speer für das neue Germania 23.765 Wohnungen jüdischer Bürger räumen. Die jüdischen Familien wurden zunächst in sogenannten Judenhäusern geschachtelt (sie nannten es wirklich so!) und später in die Lager des Ostens deportiert. Nach heutigen Berechnungen waren es etwa 50.500 Menschen, allein aus Berlin.
Als Speer im September 1981 im Beisein seiner Geliebten in einem Londoner Hotelzimmer starb, hatte er alle getäuscht: seine Frau, seine Freunde, seinen Verleger, seine Leser. Sogar ein brillanter Kopf wie der Zeithistoriker Joachim Fest, der Speer bei der Niederschrift seiner Erinnerungen half, erklärte lange nach Speers Tod in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die unbeantwortbaren Fragen“, dass er nie wirklich hinter Speers Fassade blicken konnte. Vielmehr habe Speer „uns allen mit der treuherzigsten Miene der Welt eine Nase gedreht“. So wird man ihn wohl als einen der berühmtesten Dissimulanten des 20. Jahrhunderts bezeichnen können.
Simulation und Dissimulation
Aus jüngerer Zeit fallen uns sofort weitere Beispiele für Täuschungsversuche ein.
Der Kriegsverbrecher Demjanjuk lässt sich zwar mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einer Trage in den Gerichtssaal transportieren, wird aber kurze Zeit später beobachtet, wie er ohne Zeichen körperlicher Beeinträchtigung