Geist & Leben 3/2020. Verlag Echter
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Gleichwohl soll das aszetische Zurückstellen eigener Begierden nicht aus dem Verlangen nach Freiheit, sondern immer wieder neu aus einem „lang geübten, reich gelebten [Gott-]Vertrauen“ geboren werden (MD 74). In diesem Vertrauen gründend wird die ignatianische Aszese durch das positive Verlangen angetrieben, das eigene Leben der je größeren Ehre Gottes in allem und durch alles zu widmen, wodurch der Mensch seinerseits geheilt wird (DSM 111). Dieses Verlangen ist somit keine Reaktion auf einen Mangel – an Heil und Erlösung –, sondern es nährt sich aus der Ahnung des „unerforschlichen Geheimnisses“ des menschlichen Daseins und Wesens, „dass der ‚Gott über dir‘ in dir dein Glück ist“ (MD 34). Die gleichzeitige Erfahrung von Seligkeit in und mit Gott einerseits und eigener geschöpflicher Nichtigkeit andererseits sind Ausgangspunkt ignatianischer Aszese (DSM 136 f.). Wie vor allem in der „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“ (GÜ 230–237) am Ende der Exerzitien hervorgehoben, geht es darum, an dem durch Gottes Großmut geschenkten und beschenkten Leben nicht selbstsüchtig oder ängstlich festzuhalten, sondern es im Empfangen großmütig weiterzuverschenken.22
Vor diesem Hintergrund besteht der Sinn der Exerzitien darin, „sich selbst zu überwinden und sein Leben zu ordnen, ohne sich bestimmen zu lassen durch irgend eine Hinneigung, die ungeordnet wäre“ (GÜ 21). In den Geistlichen Übungen soll Gott selbst in der Seele des Menschen wirken, „d.h. Sehnsüchte und Hinneigungen des Empfängers von dessen Innen aus ordne[n] und wandel[n]“ (DSM 35 f.). Der von Przywara gezogene Gegensatz zwischen einer ausschließlichen Ausrichtung menschlicher Begierden auf Gott und einem Verfolgen eigener Ziele ist insofern nicht selbst- und weltverachtend, als es lediglich um die letzte Zielrichtung menschlicher Sehnsüchte geht. Przywara spricht zwar von einer „Aszese des Entgegentuns“ gegen die eigene weltliche und sinnliche Liebe und von einer „Aszese des Aus-sich-heraus-springens“ (vgl. GÜ 189) aus Eigenliebe und -belang (DSM 107 ff.). Doch lehnt Przywara nicht die Eigenliebe als solche, sondern lediglich die Eigenliebe als letzte Zielrichtung des Lebens, also die Egozentrik, ab.23 Genauer bewahrt die Ausrichtung auf Gott Menschen davor, ihr Leben auf eines der beiden Extreme festzulegen: Eigenliebe oder Selbstverachtung (DSM 108 ff.). Das an Gott ausgerichtete Leben schwingt zwischen diesen beiden Extremen hin und her, schließt sie beide ein, aber bleibt an keinem haften. Setzt ein Mensch Selbstaufopferung oder Eigenliebe als letzte Zielrichtung des Lebens, wird sein Leben von diesem Ziel bestimmt und an dieses gebunden; folglich entbehrt er der Fülle der Freiheit, die man nur im „Pendelschwung“ zwischen den beiden Extremen erfahren kann.24 Erlösung in der Entsagung bedeutet also, dass die „Übergabe an den ‚lebenliebenden‘ Gott“ zur „tiefsten Kraft kräftigen Lebens“ wird, „weil sie, den letzten Krampf angsthafter Selbstbehauptung lösend, königliche Freiheit und beinahe göttliche Leichtigkeit der Seele verleiht“ (MD 74 f.).
Indifferenz
Die auf diese Art alles umrahmende Sehnsucht nach Vereinigung mit Gott nährt und erfüllt sich nicht wie bei Coakley in der stillen Kontemplation, sondern in Lob, Ehrfurcht und Dienst, für welche die Grundhaltung der Indifferenz erforderlich ist. Die Seele ist dann mit Gott vereint, wenn sie die Dinge so behandelt, wie es ihnen von Gott her zukommt (MD 75; DSM 131). So definiert Przywara Indifferenz als ein „im Angesicht der bestehenden und erkannten Unterschiede“ keine Unterschiede zu machen (DSM 127). Die Haltung der Indifferenz trägt aufgrund der wahrgenommenen Unterschiede also keine Rangordnung mehr oder weniger begehrter Dinge im Sinne des eigenen Geschmacks an die Dinge heran, sondern richtet sich stets auf dasjenige aus, was zur größeren Liebe führt.25 Hierbei sollen eigene Bedürfnisse keineswegs verleugnet werden. Man solle weiterhin in Freuden „aufatmen“ und in Schmerzen „leiden“, sich zum Positiven hingezogen und vom Negativen abgestoßen fühlen (DSM 129–132). Entscheidend ist lediglich, dass diese Gefühle den Umgang mit den Dingen nicht bestimmen. Man soll sich nicht vom „unruhigen Begehren“ des Positiven oder „knechtischen Fürchten“ des Negativen treiben lassen, welches sonst immer zwischen einem selbst und den Dingen „schwelt“ (MD 35 f.). Anstatt sich den Dingen aus „hastiger Selbstsucht“ zu nähern, kann man durch ehrfürchtigen Abstand vor sich selbst und allem Geschaffenen lernen, „Vielfalt und Eigenart und Eigengesetzlichkeit des Wirklichen“ unvoreingenommener zu sehen.
Hier findet konkret die geistige Weitung statt. Wer sich nicht absperrt „in behaglicher Enge eines kleinen Kreises, unfähig zu neuem Auswandern und neuem Erobern und neuer Enttäuschung“, dessen „Sehnen und Verlangen und Wollen“ kann an der „Weite der Unendlichkeit Gottes“, an der „Unerforschlichkeit Seiner Wege“ (MD 32 f.; 59), und so an der „Ewigkeitstiefe aller Dinge“ (MD 59) teilhaben.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Welt erlöst, aber noch nicht vollendet ist, vollzieht sich diese seelische Einigung im Dienst. Hier ist der Mensch mit dem erlösenden Gott vereint, trägt aber nicht rein selbstlos zur Erlösung der Welt bei, sondern wird hierin auch selbst erlöst. Ignatianischer Dienst verhindert sowohl, dass sich der Mensch aus Eigenliebe oder Selbstschutz aus der Welt zurückzieht als auch, dass er sich völlig selbstlos an die Welt verschenkt (DSM 108 ff.). Im Dienst geht es darum, Gottes immer wieder überraschenden Fügungen zu folgen, „restlos zu wehen im Wehen Gottes, restlos zu brennen im Feuer Gottes“ (DSM 20). Solch ein Dienst ist nicht selbstlos. Einseitig in Richtung des Extrems der Selbstaufgabe „schwingend“, wird der als unumstößliche Pflicht geleistete Dienst starr und mechanisch, in „seelenmörderischer Geschäftigkeit“, ausgeführt (MD 73). Der aus liebendem Gottvertrauen motivierte Dienst hingegen leistet mehr als die Pflicht und bekommt so eine persönliche, virtuose Note (DSM 41 f.). Wer liebend dient, verwirklicht im Dienst die je eigene Einzigartigkeit – und doch wird diese Selbstverwirklichung nicht von egozentrischen Zielen des Menschen, sondern von den göttlichen Fügungen, denen sich der Mensch im Liebesdienst frei anvertraut, bestimmt.
„Theologisches Begierdetraining“
In diesen Ausführungen ging es uns darum, gewissermaßen zwei Formen eines „theologischen Begierdetrainings“ vorzustellen, die eine Logik eigennutzorientierter Bedürfnisbefriedigung nicht nur kritisieren oder Verzicht predigen, sondern attraktive Alternativen zeichnen, wie das Kultivieren des Begehrens als Weg zu Gott und zu einem integralen Selbst- und Weltverhältnis verstanden werden kann. Sowohl bei Sarah Coakley als auch bei Erich Przywara kann von einer Neuausrichtung der menschlichen Begehrens- und Erkenntnisstruktur durch aszetische Formung gesprochen werden. Diese ordnet nicht nur die Affekte, sondern führt auch in ein „rationaleres“ Verhältnis zur Welt. Coakley will der Verabsolutierung begehrter Objekte vorbeugen, indem sie Menschen einlädt, die drängendsten Begierden in stiller Kontemplation zeitweilig zu suspendieren und sich auf diesem Wege nicht nur auf Perioden der Enthaltsamkeit vorzubereiten, sondern auch Geschmack an der seelischen Vereinigung mit Gott zu finden, die über endliche Bedürfnisbefriedigung hinausweist. E. Przywaras Gedanken zur ignatianischen Spiritualität helfen zu verstehen, wie sich ein Begierdetraining im Umgang mit den „Objekten“ des Begehrens vollzieht. Theologisch im Fokus steht hier die Vereinigung mit dem Gott, der die Welt in Christus dienend erlöste. In diesem Liebesdienst an der Welt wird das eigene Begehren zwar wahrgenommen, aber der Mensch lässt sich nicht von ihm regieren. In der Hingabe für das Wohl der Welt bedeutet Aszese nicht Selbstverneinung, sondern eine Freiheit und Selbstverwirklichung, die im Streben nach egozentrischer Bedürfnisbefriedigung gerade verfehlt wird.26
Asketische Spiritualität meint damit keine lebensfeindliche Abtötung der eigenen Begierden, die sich oft mit rigoristischer Abwertung und unbarmherzigem Urteil gegenüber anderen Lebensentwürfen verbindet. Sie meint aber auch nicht die Suche nach einer spirituellen Kompensation für die Unannehmlichkeiten des Lebens, nach Wellness und innerer Balance, die letztlich egozentrisch von der Selbstsorge regiert bleibt. Vielmehr geht es darum, sich immer mehr, umfassender und tiefer von der Liebe Gottes ergreifen und formen zu lassen, sodass das eigene Leben in Hingabe und Freude zur Antwort und zum Zeugnis dieser