Geist & Leben 3/2020. Verlag Echter
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Der geliebte Jünger ist weit mehr als nur eine literarische Fiktion oder Kunstfigur.7 Es dürfte diesen Jünger wirklich gegeben haben.8 Auf seiner Sicht der Dinge ruht letztlich das Zeugnis des Johannesevangeliums: „Er ist die große Autorität, die hinter dem Evangelium steht (21,24: Er hat es geschrieben) und dessen Verkündigung seine Schüler und Freunde als bleibendes Gut (…) aufgenommen und festgehalten haben. Aus diesem ‚johanneischen Kreis‘ stammen das Evangelium und die Briefe des Johannes.“9 Auf das Zeugnis dieses geliebten Jüngers – auf seine Wahrnehmung und Deutung der Geschichte Jesu – beruft sich das Johannesevangelium: „Wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“ (Joh 21,24)
Den Begriff „Lieblingsjünger“ sollte man dabei möglichst vermeiden. Die Bezeichnung trägt unterschwellig eine Hierarchie und Konkurrenz in die Jüngerschaft ein, die der griechische Text nicht hergibt. Dort ist schlicht und ergreifend von dem Jünger die Rede, den Jesus liebte – nicht bevorzugt und schon gar nicht im Gegensatz zu allen anderen Jünger(inne)n. Es wäre sogar verfehlt, im geliebten Jünger nur eine exzeptionelle Erscheinung zu sehen. Das Evangelium ist vielmehr darum bemüht, die zeitlose Relevanz und Bedeutung des geliebten Jüngers zu verdeutlichen. Er verkörpert das Selbstverständnis und die Aufgabe aller Jünger(innen): Sie sollen sich von Jesus geliebt wissen und – wie der geliebte Jünger – die Sendung Jesu aufnehmen und weitertragen. Für die johanneische Gemeinde wurde er zum Dolmetscher, der das Evangelium in eine eigene Sprache und Begrifflichkeit übersetzt. Sein Zeugnis will Zeug(inn)en ausbilden, die ihrerseits das Evangelium weitertragen und verkünden.
Maria von Magdala: Aufbruch ins Leben (Joh 20,11–18)
Die Szene ist eindrücklich und anrührend: Allein steht Maria von Magdala vor dem Grab Jesu. Sie weint. Sie ist verzweifelt. Sie sieht nur das gähnend leere Loch des Grabes. Sogar der Ort der Trauer wurde ihr genommen. Sie sucht nach dem Leichnam Jesu und findet ihn schließlich: doch anders als sie meint, erst nach einem intensiven Trauerweg und Erkenntnisprozess. Das Johannesevangelium berichtet hier nicht von einem kruden Faktum. Die Erzählung ist vielmehr ein Kleinod johanneischer Theologie: Die urchristliche Erinnerung an den Grabbesuch der Frauen am Ostermorgen (Mk 16,1–8) wird in typisch johanneischer Manier entfaltet.
Wie so oft im Evangelium ist der Fokus auf eine einzelne Person gerichtet. An Maria wird ersichtlich, wie Ostern wird und was Ostern bedeutet. Viele Worte Jesu im Johannesevangelium erfüllen sich nun: ein weiterer Beleg für die tiefgründige theologische Darstellung. Jesus hatte prophezeit: „Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, aber eure Trauer wird sich in Freude verwandeln.“ (Joh 16,20) Der Satz liest sich wie eine Zusammenfassung der Szene: Maria trauert, doch ihre Trauer wandelt sich in Freude und Zuversicht.10 Maria gibt dem so zentralen johanneischen Grundwort „bleiben“ ein Gesicht. Sie bleibt auch noch nach dem Tod Jesu. Sie bleibt, auch wenn alle anderen Jünger längst geflohen sind. Schon deshalb verdient sie den Ehrentitel apostola apostolorum, Apostelin der Apostel. Ostern wird für Maria schließlich, als sie sich angesprochen weiß, als sie die Stimme Jesu hört: „Maria!“ (Joh 20,16) „Meine Schafe“, so sagte Jesus, „hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir.“ (Joh 10,27)
Kurzum: Was hier erzählt wird, ist mehr als ein historischer Bericht. Hier wird Theologie ins Bild gesetzt und eine Ostererfahrung portraitiert. Wie wird Ostern? Durch eine persönliche Begegnung und Erfahrung. Was lässt die Gewissheit wachsen, dass Jesus lebt? Maria macht deutlich: Die Liebe ist das entscheidende österliche Erkenntnismedium. Es ist die Gewissheit von Liebenden, die im Tod niemals das Ende sehen können, die Gräber nicht als Gruften verstehen, sondern als Gärten begreifen. Insofern hat Maria – mit typisch johanneischer Ironie beschrieben – durchaus Recht, wenn sie meint, Jesus sei der Gärtner. In der Tat: Vor ihr steht der große Gärtner inmitten eines neuen Schöpfungsgartens.11 Nicht von ungefähr betont das Johannesevangelium, dass Jesus in einem Garten und in einem neuen Grab beigesetzt wurde (Joh 19,41). Unwillkürlich denkt man an den Schöpfungsgarten im Buch Genesis (Gen 2,4–25). Ostern streckt sich nach einer „erhoffte(n) Vergangenheit“12 aus. Ostern sehnt sich nach einer neuen Schöpfung, in welcher der Tod nicht mehr zum Himmel stinkt, sondern neues Leben blüht. Der große Gärtner Gott führt seine Schöpfung ans Ziel. Maria reicht Trauernden die Hände. Die Erzählung beschreibt einen intensiven Trauerweg. Zweimal wird sie – von den Engeln (Joh 20,13) und von Jesus (Joh 20,15) – gefragt: „Warum weinst du?“ Sie soll ihre Trauer in Worte fassen und sich den Verlust eingestehen. Wichtig sind die Bewegungen von Maria, die – rein räumlich oder figürlich betrachtet – keinen rechten Sinn ergeben. Sie stellen nicht äußere Vorgänge dar, sondern bilden innere Wendungen und Erkenntnisschritte ab.
Manches sieht man nur mit Augen, die geweint haben. Erst als Maria am Ort des Abschieds getrauert hat, kann sie sich umwenden: „Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war.“ (Joh 20,14) Noch unbekannterweise weint sie sich bei ihm aus (Joh 20,15). Die persönliche Anrede bewirkt eine abermalige Wendung: „Da wandte sie sich um und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister.“ (Joh 20,16) Ostern leuchtet dem ein, der sich von Jesus persönlich angesprochen weiß und seine Stimme im Dunkel der Trauer hört. Ostern schenkt eine neue Perspektive. Vorher starrte Maria auf das Grab. Nun blickt sie nach vorn und erhält eine neue Aufgabe: „Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ (Joh 20,17)
Im Leben mag der beschriebene Trauerweg von Maria Wochen, Monate oder gar Jahre dauern. Die innere Dynamik und das Ziel aber sind identisch. Ostern schafft das Weinen nicht ab. Aber Ostern schürt die Hoffnung in den Herzen von Trauernden, dass der Tod allenfalls das vorletzte Wort hat. Die Hoffnung auf das entscheidende letzte Wort verdichtet sich in der Zusage Jesu: „Wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.“ (Joh 14,3)
Die Jünger(innen): Eine Einladung zum Kennenlernen
Das Johannesevangelium ist durchzogen von einem facettenreichen Figuren- und Wegenetz. Auf Schritt und Tritt stellt es seinen Leser(inne)n Pat(inn)en an die Seite: Figuren, deren Biografie die Theologie erdet und die von den Herausforderungen, aber auch von der Schönheit und Zuversicht der Nachfolge erzählen. Die vielen verschiedenen Personen geben dem Evangelium ein konkretes Gesicht. Greifen Sie zu! Die Figuren sind Platzhalter und Gesprächsangebote, Wegweiser und Verständnishilfen. Sie übersetzen das Evangelium ins Leben wie Dolmetscher(innen) und bahnen Wege zu Jesus wie Pfadfinder(innen).
Die Figuren sind mit Bedacht gewählt und alles andere als Nebensächlichkeiten. Im Johannesevangelium sind gerade die Figuren Aktualisierungsgaranten und Elemente der Leserbindung. Sie ermöglichen das Gespräch und fordern zur Auseinandersetzung auf. Die Leser(innen) begegnen in den Figuren einem Teil von sich selbst. Die Figuren sind Begegnungsorte und Ankermöglichkeiten, um selbst in der Geschichte Fuß zu fassen. Was Martin Walser über die grundlegende Funktion von Büchern sagt, gilt – mit Blick auf die Figuren – insbesondere auch für das Johannesevangelium: „Man kann, um sich zu begegnen, in den Spiegel schauen, auf alte und neuere Fotos, aber