Verantwortliche Gelassenheit. Thomas Holtbernd
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Haltung bewahren als Voraussetzung zur Freiheit
In der Krise einen Anfang wagen
Krisenkünste als Einübungen ins Leben
Die Kunst der heiteren Gelassenheit
Die Kunst des Umgangs mit der Dummheit
Die Kunst der Vornehmheit und Höflichkeit
Die Kunst des wilden Assoziierens
Corona, das Ungeplante und die Krise
Bisherige Epidemien und Pandemien betrafen vor allem Randgruppen oder Entwicklungsländer, Covid-19 trifft in die Mitte unserer Gesellschaft, und dies könnte erklären, warum die Bedrohung durch das Virus SARS-CoV-2 als so hoch eingeschätzt wurde und ungewohnt massive Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Die Übertragungsorte oder -wege sind typisch mittelschichtszentriert: Geschäftsreisen, Skiurlaub, Kreuzfahrten, also die Enklaven der Wohlhabenden.2 Covid-19 trifft die Gesellschaft in ihrer Verwundbarkeit, der gemeinschaftlichen Sorge um den Einzelnen, der Solidarität und Gerechtigkeit sowie der Gewähr eines aktuellen Schutzes und einer Planungssicherheit. Konkret ist die Gesellschaft durch Covid-19 in dem Bereich gefährdet, der durch die Fortschritte der Medizin fast unverwundbar erschien. Gesundheit war für den Einzelnen ganz im Sinne des Neoliberalismus zum Ort des Erfolgs oder Glücks durch eigene Anstrengungen und finanzielle Möglichkeiten geworden. Dass das körperliche Wohlbefinden nicht nur von den Leistungen und Investitionen des Einzelnen abhängt, stellte dieses Gesundheitsverständnis radikal in Frage. Rudolf Virchow schrieb bereits 1849, dass die Seuchen als eine große Störung des Massenlebens zu verstehen seien.3 Er kam folgerichtig zu der Forderung: „Soll die Medizin daher ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muß sie in das große politische und soziale Leben eingreifen …“4 Es verwundert daher nicht, wenn vor allem Mediziner die politischen Maßnahmen während der Corona-Krise maßgeblich mitbestimmten. Die geforderten Therapiepläne zielen dabei auf eine Herdenimmunität ab, durch die die Störungen des Massenlebens und damit die Gefahr für den Einzelnen gebannt werden sollen. Man könnte dies als einen Paradigmenwechsel beschreiben: Nicht mehr der Einzelne ist für seine Gesundheit verantwortlich, sondern der Einzelne hat Sorge für die Gemeinschaft zu tragen und kann so seine Gesundheit erhalten.
Stärker als die Ölkrise 1973 oder die Finanzkrise 2008 führte die Corona-Krise 2020 zu einem massiven Eingriff in das alltägliche Leben der Menschen. Durch die Kontaktsperren wurden selbst menschliche Grundbedürfnisse beschnitten. Zum ersten Mal in der Geschichte fügten sich auch die Kirchen und feierten über Monate nur sehr beschränkt öffentliche Gottesdienste, die hohen Feiertage wie Ostern und Weihnachten fanden weitestgehend virtuell statt. Theater- und Opernaufführungen, Stadtfeste und alles, was zum gewohnten Alltag gehörte, wurde abgesagt. Die Fortführung des bisherigen Lebensstils, der vorher durch Klimaaktivisten radikal der Kritik unterzogen worden war, musste schlichtweg aufgrund der Einschränkungen unterbrochen werden. Gleichzeitig konnten aufgrund der Krise die durch den bisherigen Lebensstil entstandenen Schäden ausgeblendet werden. Flugscham oder generell eine selbstkritische Sicht auf die eigenen Konsumgewohnheiten wurden vom Thema Corona überdeckt. Moralisches Handeln konnte einfach und genau definiert werden: Abstand halten, Mund-Nase-Schutz tragen und Hygieneregeln einhalten. Man musste sich den schwierigen Fragen um die eigene Schuld, die Bedingtheit ethischer Standpunkte, die komplexen Zusammenhänge und die Glaubwürdigkeit der eigenen Überzeugungen nicht stellen. Der Zwiespalt und die Widersprüchlichkeiten moralischen Handelns konnten ausgeblendet werden. „Ich weiß von der historischen Bedingtheit meiner Anschauungen und also von ihrer Relativität, und doch kann ich nicht anders, als sie absolut zu setzen, denn sonst ginge die Ernsthaftigkeit meiner Überzeugungen verloren.“5 Es wurde eine kulturelle Gleichheit verordnet, die es jedoch nur auf der Ebene des Schutzes gibt. In Krisensituationen ist die unbedingte Konzentration auf das Wesentliche notwendig, da es ums Überleben geht.
Auf der anderen Seite schließt die Konzentration auf das, was in der Krise zu tun ist, Mehrdeutigkeiten nicht aus. Gleichzeitig erschwert der Wunsch nach Klarheit und Übersichtlichkeit die Toleranz für widersprüchliche Situationen und Vorgehensweisen. Eine solche Komplexität wird dann als Paradoxie erlebt und erhöht den Widerstand gegen angeordnete Maßnahmen oder wird als unnötige Belastung verstanden. So erfahren die konkrete Gefahr, Infektion und Erkrankung mit schwerem Verlauf, direkt oder indirekt nur wenige Menschen, die Beschränkungen gelten jedoch für alle. Vom Einzelnen ist eine Abstraktionsleistung verlangt, er muss aus den Informationen, die er durch die Medien bekommt, die Dimension der Pandemie ableiten können oder zumindest den Fachleuten und Politikern Glauben schenken. Dies scheint bis auf wenige Ausnahmen gelungen zu sein und darf wohl als eine große gesellschaftliche Leistung anerkannt werden.
Diese Paradoxie führt bei den Menschen auf der anderen Seite zu einer diffusen Angst. Die Härte der Maßnahmen lässt eine Katastrophe erahnen, kann jedoch nicht mit konkreten Erfolgen eigenen Handelns verbunden werden. Ziel der politischen Maßnahmen ist es ja gerade, dass möglichst wenige infiziert werden und erkranken. Um das Gefühl der Selbstmächtigkeit zu erhalten, werden die diffusen Ängste auf konkrete Dinge verschoben, und die Menschen horten Toilettenpapier und Nahrungsmittel. Dieses irrationale Verhalten kann als die Kehrseite einer Gesellschaft verstanden werden, die Gefühle in Shitstorms entladen hat und im Fall der akuten und realen Bedrohung kollabiert. Der Einzelne bekommt „Schiss“ und sorgt für den Fall vor, bei dem er oder sie nicht mehr in der Lage ist, das Aufgenommene zu verdauen oder es einfach wie beim Shitstorm unkontrolliert herauszulassen.
Zuversicht schöpfen die Menschen aus dem, was in den Gesellschaften funktioniert. Die Gewissheit, dass zwar mit einigen Blessuren auch die Corona-Krise bewältigt wird, war durch die vorherigen Krisenerfahrungen gefestigt.