Verantwortliche Gelassenheit. Thomas Holtbernd

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Verantwortliche Gelassenheit - Thomas Holtbernd

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Andererseits bedürfen die Menschen im Falle der Krankheit oder der Gefahr einer Gewissheit und eines Zuspruchs. Sie wollen Hoffnung schöpfen können aus dem, was der Arzt ihnen sagt. Wolfgang Schmidbauer spricht hier vom warmen und vom kalten Denken: „Im kalten Denken wird Wissen zur Wahrheit erhoben, denn es ist grundsätzlich besser als Nichtwissen. Im warmen Denken dagegen ist Raum für beides. Das erlebende Ich muss seinen Weg finden zwischen falschem Sein und unerträglichem Wissen.“24 Die Fokussierung auf Virologen und Epidemiologen war am Anfang der Krise durchaus sinnvoll, um ein Realitätsprinzip den Vermutungen, wilden Meinungen und Leugnern entgegenzusetzen sowie eine klare Perspektive, nämlich das Impfen, zu geben. Dieses kalte Denken stellt sich allerdings selbst unter einen ungeheuren Druck, weil die Erwartungen idealisiert werden und bei einem Scheitern das Leben vieler Menschen auf dem Spiel steht. Dass es keinen Wandel in der gewohnten Medizininszenierung gab, zeigte sich darin, wie Pflegekräfte beklatscht wurden. Obwohl sich Pflege schon seit einigen Jahrzehnten in einem Krisenmodus befindet, der Pflegenotstand jedem bekannt sein dürfte, wird den Pflegekräften „nur“ für ihren besonderen Einsatz gedankt. Inwieweit Pflege zu einer notwendigen Weiterentwicklung des Gesundheitssystems beitragen könnte, wurde gar nicht in Erwägung gezogen.

      Fakten, wie Wissenschaftler gewohnt sind, sie darzustellen und davon zu reden, haben keine Wirklichkeit. Es ist ähnlich wie bei einer Chefarztvisite, wo der Mediziner zu den anderen Medizinern spricht und der Patient, um den es geht, sich wie eine Sache fühlt und nicht versteht, was da geredet wird. Nach der Visite werden die Pflegekräfte gefragt, was die Mediziner denn gesagt haben. Eigentlich will der Patient nur wissen, wie es um ihn bestellt ist. Eine sprechende Medizin würde größere Mühe darauf verwenden, wie ein schwieriger Sachverhalt erklärt werden kann. Hierfür müsste der Wissenschaftler in die Sprache der Kunst wechseln. Etwas Konkretes und Anschauliches beruhigt den Patienten, und der Arzt würde mit in die Gefühlswelt gehen, die durch ein solches Bild provoziert wird.

      Pflege könnte hier genutzt werden, um neue Narrative zu entwickeln. Da Narrative auch Mittel der Macht sind, müsste der soziale Status von Pflegekräften angehoben werden; der ist nämlich deutlich niedriger als der von Ärzten. Zweitens müssten andere Wertigkeiten eingefordert werden, was für die schwieriger ist, deren sozialer Status nicht so hoch ist. So fällt es schwer, die Ausgaben für Personal, das Zeit für die Patienten hat, erfolgreich einzufordern, während Gelder für technische Entwicklungen in der Medizin fraglos unterstützt werden. In der Medizin sind mittlerweile robotergestützte Operationen keine Seltenheit mehr. Der Einsatz solcher Maschinen wird kaum in Frage gestellt. Der Effekt solcher Operationen ist leicht begründbar. Der Roboter kann es genauso gut und oft besser als der Mensch, vor allem ist er nicht so störungsanfällig. In der Pflege hingegen gibt es für den Einsatz von Pflegerobotern große Vorbehalte, weil menschliche Zuwendung und technische Versorgung nur schwer zu vereinbaren sind. Auch wenn der Mensch in diesem Sinne nicht so perfekt sein kann wie der Roboter, hat er doch etwas, was einer „Maschine“ fehlt.

      Gedanken zu einer Kriseninszenierung müssen dieses Etwas aufzudecken versuchen. Der Blick auf das, was bei der Inszenierung fehlt, was nicht gesagt wird, ist oft wichtiger als das, was gesagt wird. Zum Beispiel gehört zum Wesenskern von Pflege maßgeblich Beziehungsarbeit, und die lässt sich nicht quantifizieren; vieles ist vorläufig, provisorisch, nicht berechenbar, uneindeutig. Beziehungsarbeit ist immer auch körperliche Zuwendung. Diese Aspekte spielten bei der Corona-Inszenierung keine große Rolle. Die Körperlichkeit von Pflege und Medizin wurde durch die Inszenierung im wahrsten Sinne des Wortes durch die Schutzkleidung bedeckt.

      Körperliche Nähe, ohne die Medizin und Pflege nicht denkbar sind, verweist auf eine gefährliche Ambivalenz. Aids wie früher auch schon Syphilis oder andere Geschlechtskrankheiten kennzeichnen körperliche Nähe gleichzeitig als Lust und Gefahr. Aids wurde als gerechte Strafe für die Sünde der Homosexualität von einigen Kreisen gebrandmarkt. Syphilis, Ulcus molle u. a. galten als Strafen für sexuelle Promiskuität. Beim Coronavirus wird körperlicher Abstand inszeniert, eine Armlänge, und die Bilder aus der Silvesternacht 2015 / 2016 dürften noch präsent sein. Hier wird zu geringer Abstand mit Übergriffigkeit assoziiert. Nach #meToo, den Missbrauchsskandalen und der Forderung nach einer gendergerechten Sprache verbirgt sich gerade im körperlichen Abstand das Sexuelle, weil es nicht offensichtlich ist. Das Abstandsgebot ist die inszenierte Sehnsucht nach einer freien und ungezwungenen Körperlichkeit, die nicht mit Assoziationen von falsch, übergriffig oder Machtmissbrauch verbunden ist. Das Abstandsgebot wird möglicherweise von denen unterlaufen, die keine Sensibilität für die gefährliche Ambivalenz der körperlichen Nähe entwickelt haben und daher die Abstandsregeln als Verschärfung der Debatten um Missbrauch, Gleichberechtigung und Gendergerechtigkeit empfinden. Aber auch die, die eine hohe Empfindlichkeit für sexuelle Übergriffigkeiten haben, könnten das Abstandsgebot missachten, weil sie sich sicher sind, dass sie die Grenzen der körperlichen Unversehrtheit nicht überschreiten, dabei aber die Gefahr der Infektion unterschätzen.

      Mit Vermutungen darüber, wie es nach der Krise weitergehen wird, werden solche blinden Flecke ausgeblendet. Ebola, Aids, Sars, die Finanzkrise und ähnliche Erschütterungen haben die Gesellschaft angekratzt, die Strukturen sind jedoch gleichgeblieben. Und insbesondere die Finanzkrise wie auch die Corona-Krise kennzeichnet ein starker Beharrungswillen. In den sprachlichen Formulierungen zeigt sich dies in dem Begriff „systemrelevant“. Banken, bestimmte Berufe, Betriebe und Geschäfte sollen gestützt werden, damit das System erhalten bleibt. Deutlicher kann das Festhalten-Wollen am Alten nicht gekennzeichnet werden, wobei das Alte mit technischem Fortschritt und Globalisierung irreführend übersetzt wird.

      Es war vorauszusehen, dass sich ein Virus durch die Globalisierung, die Reisebewegungen, die internationalen Verbindungen der Unternehmen schnell und über die ganze Erde ausbreiten kann. Durch Covid-19 sind die hierdurch bedingten Gefahren deutlich geworden, und das löst Panik und Ängste aus. Also nicht die gegenwärtige Corona-Krise erschüttert die Menschen, sondern die Gewissheit, dass die Entwicklungen nun zu einem point of no return gelangt sind. Gleichzeitig ist die Argumentation, dass die Infektionsrate gesenkt werden muss, damit genug Intensivbetten zur Verfügung stehen, der Verweis auf einen Verteilungskampf, der mit den Flüchtlingsströmen schon begonnen hatte, doch noch nicht nah genug an der Alltagswirklichkeit der meisten Menschen war. Irgendwie ist den Menschen jedoch klar, dass sie sich durch ihren Egoismus in diesen Verteilungskämpfen schuldig gemacht haben. Dieses Schuldgefühl oder Wissen um die bereits schwelenden Verteilungskämpfe führt zu Übersprungshandlungen und es wird Klopapier gekauft, womit jedoch genau das wiederholt wird, was in den Verteilungskämpfen geschieht: Erst sorge ich für mich. Dass darüber eine Unzahl an Witzen, lustigen Filmchen usw. entstanden ist, ist letztlich eine andere Form der Abwehr. Indem die toilettenpapierkaufenden „Idioten“ verulkt werden, müssen die dahinterstehenden Ängste nicht ernst genommen werden.

      Der Fortschritt, das unbegrenzte Wachstum ist als Ideal inakzeptabel geworden, viele Menschen ahnen, dass dieser Mechanismus einen Zusammenbruch zur Folge haben wird. Dies ist eine ungeheure Kränkung, weil die letzten Jahrzehnte, vor allem seit dem Aufkommen des Neoliberalismus, ad absurdum geführt werden. Dabei wird die Kränkung auf das Nichtkönnen bezogen und nicht auf die Handlungen und Einstellungen, die zu diesem Zustand geführt haben. Die Corona-Krise muss demnach so inszeniert werden, dass das politische und gesellschaftliche Geschehen auf das Meistern dieser Krise bezogen wird. Die Maßnahmen müssen als gelungen dargestellt, die Hoffnungen auf das Können bezogen werden, nämlich darauf, dass ein geeignetes Medikament und ein Impfstoff gefunden werden. Die exakten Wissenschaften werden zur Beratung herangezogen, und „fragende“ Wissenschaften werden an den Rand gedrängt oder dürfen sich zu Fragen äußern, die scheinbar zum Problem gehören, doch keine praktische Relevanz haben. Es wird versucht, das Ideal einer durch naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt begründeten Wohlstandsgesellschaft aufrechtzuerhalten, statt die Kränkungen durch die Begrenztheit dieses Ideals zu ertragen.

      Begonnen hat die Krise mit einem Schuldgefühl. Es ging um den Schutz vor allem der Alten. Es sollte eine Generation geschützt werden, die den Krieg und die ersten Jahre des Wiederaufbaus meist nur als Kinder und dann die Wohlstandsjahre in der Blüte ihres Lebens verbracht hatten. Gleichzeitig ist es die Generation,

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