Verantwortliche Gelassenheit. Thomas Holtbernd
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Die moderne Gesellschaft wurde durch die Pandemie mit der Tatsache konfrontiert, dass die Zukunft nicht sicher geplant werden kann. Mit Covid-19 ist die Unvorhersehbarkeit zu einem radikalen Höhepunkt gekommen, weil deutlich wurde, dass nach der Krise eine neue Krise kommen wird. Die bisher als Krisen bezeichneten Phänomene dienten möglicherweise durch diese Bezeichnung eher der Ablenkung, um die Komplexitäten in einer globalen Welt reduzieren und die Gefahren verharmlosen zu können. Indem eine Situation zur vermeintlichen Krise erklärt wird, kann die Aufmerksamkeit auf nur einen Bereich fokussiert und andere Konflikte können ausgeblendet werden. Diese einseitige Perspektive kann dann wiederum die Ursache dafür sein, dass bestimmte Entwicklungen nicht gesehen, folglich auch nicht gestoppt wurden und so tatsächlich eine existenziell bedrohliche Krise eintritt.
Edgar Morin hatte 2001 in einer Schrift für die UNESCO darauf hingewiesen, dass zu einem für eine globalisierte Welt notwendigen komplexen Denken das Ungewisse miteinzubeziehen ist: „Daher ist bei keiner Aktion sicher, daß sie sich im beabsichtigten Sinne entfalten wird.“8 Hartmut Rosa beschreibt dieses Nichtkontrollierbare als das Unverfügbare: „Indem wir Spätmodernen auf allen Ebenen – individuell, institutionell und strukturell – auf die Verfügbarmachung von Welt zielen, begegnet uns die Welt stets als ‚Aggressionspunkt‘ oder als Serie von Aggressionspunkten …“9 Aufgrund dieser Analyse lässt sich auch die martialische Wortwahl verstehen, mit der über die Infektion und Maßnahmen zur Eingrenzung der Pandemie gesprochen wird.
Die Corona-Krise hat die als sicher geglaubte gesellschaftliche Entwicklung radikal in Frage gestellt. Das Wissen um die Notwendigkeit eines komplexen Denkens macht Angst und fördert die Sehnsucht nach dem Bekannten. Nicht die tatsächliche Realität wird reflektiert, es wird die Rückkehr zur Normalität gefordert und dies mit einer Vision des guten Lebens verwechselt. Wie ein Kind, das aufgrund einer schwierigen Bindung zur Mutter beziehungsweise den Bezugspersonen die Realität verdrängt und sich die Vergangenheit als einen paradiesischen Zustand ausmalt und dahin zurückkehren möchte, scheint die Rede von der Rückkehr in die „Normalität“ vom Wunsch geprägt zu sein, die negativen Entwicklungen aus der Zeit vor der Corona-Krise ausblenden und die Arbeit an sich selbst wegschieben zu wollen. Das Kind will nicht erwachsen werden und die Eltern wollen nicht wahrhaben, dass sie Zuneigung mit ihren Vorstellungen vom richtigen Leben verwechselt und die Entwicklung ihres Kindes zum Erwachsenen genau hiermit behindert haben.
Notwendig für eine Deutung oder Analyse der Situation ist das, was in der Psychotherapie die therapeutische Distanz und vergleichbar in der philosophischen Richtung der Phänomenologie epoché genannt wird. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer therapeutischen Distanz für eine erfolgreiche Behandlung setzt die Auseinandersetzung mit den eigenen Unergründlichkeiten voraus, damit im Klienten und in seinen Problemen nicht das gesehen wird, was der Therapeut aufgrund eigener unbewältigter seelischer Zustände sehen will. Diese Empathie des Therapeuten für sich selbst macht sein „wissenschaftliches“ Vorgehen zu einem warmen Denken. Die Symptome oder die geäußerten Motive werden keiner eiskalten, sachlichen Diagnose und keinem chirurgischen Eingriff unterzogen, sie werden als Material für eine Deutung herangezogen. Es geht um ein Verstehen, das gleichzeitig eine Form der Hinwendung zum anderen Menschen ist. Für den Einzelnen kann dies bedeuten, sich in dem Theaterstück „Corona“ als einen der Darsteller vorzustellen, um eine innere Distanz gewinnen, sein eigenes Erleben möglichst sachlich und neutral bewerten und über sein eigenes Verhalten, was er in dem Spiel peinlich berührt wiedererkennt, als besonders gut gesetzte Pointe lachen zu können. Für die Bewältigung der Corona-Krise muss neben den sachlich und praktisch notwendigen Maßnahmen ihre Inszenierung analysiert und verstanden werden. Was Einzelne und auch die Gesellschaften zu verdrängen, abzuwehren oder zu rationalisieren versuchen, findet sich als Inszenierung dieser Krise wieder und erschwert oder erleichtert die Maßnahmen, die sachlich geboten sind.
Moderne Gesellschaften sind Aufmerksamkeits- und Erregungskulturen und bieten mit den digitalen Medien jedem eine Selbstinszenierungsplattform: „Jeder, der postet und kommentiert, Nachrichten und Geschichten teilt, ein Handyvideo online stellt, leistet seinen Beitrag, wirkt daran mit, die Erregungszonen der vernetzten Welt endgültig zu entgrenzen.“10 Dies führt zu einem fluiden Verständnis von Narrativen und macht eine Institution wie die Kirche zu einem von unzähligen Sinn-Anbietern. Die Pandemie erfordert dagegen ein starkes Narrativ darüber, was die Gesellschaft zusammenhalten kann. Ein solches Narrativ muss in der Kultur und Tradition verankert sein, damit es verstanden wird und für Krisen allgemein gilt, damit es eine existenzielle Bedeutung bekommt und nicht nur als eine Technik wahrgenommen wird. Die modernen Gesellschaften sind aufgrund ihrer Verwundbarkeit durch einen immerwährenden Krisenmodus gekennzeichnet und die Diskussionen über die Klimakatastrophe haben die anthropologische Grundbedingung des Menschen als ein Krisenwesen, das immer wieder neu seine Position zwischen Natur und Kultur bestimmen muss, dabei stärker ins Bewusstsein gebracht.
Der Wandel der Narrative zeigt sich auch darin, dass die Kirchen in der Corona-Krise keine Sonderstellung eingefordert und kaum noch eine tragende Bedeutung bei den ethischen Auseinandersetzungen haben, obwohl gleichzeitig deutlich ist, dass die Argumente für ethische Entscheidungen aus der christlichen Tradition stammen.11 Die Corona-Krise hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass sich die Gesellschaft in ihrem Handeln immer weniger an den moralischen Werten orientieren kann, sie muss aufgrund der unübersehbaren Konflikte und Gefahren für das Überleben Probleme lösen. Organisationen wie die Kirchen, wollen sie noch Akzeptanz finden, müssen sich als Mitstreiter bei diesen Aufgaben beweisen und ihre Theologie, ihr kirchliches Leben und ihre Aktivitäten daraufhin in Frage stellen lassen. Welche Schwierigkeit vor allem die katholische Kirche mit einer solchen Öffnung zur Welt hin hat, zeigen die Missbrauchsskandale, bei denen trotz juristischer Eindeutigkeit die Macht über das Wie im Umgang mit den Tätern nur mit größtem Widerstand an staatliche Stellen abgegeben wird. Die Corona-Krise verweist die katholische Kirche darauf, dass der Missbrauchsskandal durch das Projekt einer Kirche mitbedingt ist, das im 19. Jahrhundert begonnen wurde und nun gescheitert ist. In dieser Zeit „mauerte sich die katholische Kirche in eine durchaus beeindruckende Institutionsfestung ein und behauptete, dies sei die ewige und natürliche Form von Kirche“12. Der Umgang mit dem Missbrauch kann als Inszenierung einer narzisstischen Kränkung verstanden werden. Mit einer konstruktiven und ehrlichen Aufarbeitung könnte Kirche als ein Beispiel dafür dienen, dass Monopolstellungen in der modernen Gesellschaft obsolet geworden sind und die Selbstmächtigkeit des Einzelnen zu einer größeren Flexibilität und Eigenverantwortung führt als ein übermächtiger Verwaltungsapparat, der durch Disziplinierung und Strafen Veränderungen bremst und Widerstände provoziert. Die Bewältigung der Corona-Krise wie auch anderer Krisen kann positive Impulse bekommen, wenn eine Institution wie die Kirche ihre Selbstinszenierung radikal zur Disposition stellt. Hieran können beispielhaft die Dynamiken einer Inszenierung überhaupt erkannt und dann entsprechend auf die Inszenierungen der Krise übertragen werden. Die Aufgabe der Kirchen in der modernen Welt und der Krise könnte genau hierin bestehen und würde gleichzeitig eine Berechtigung für ihr Überleben darstellen. Auf der anderen Seite müsste eine Organisation, die diesen Schritt wagt, die Möglichkeit einbeziehen, dass sie sich selbst abschafft. Der Mut, eine solche Ambivalenz einzugehen, kann für andere wiederum eine Ermutigung sein, in der Krise trotz des ungewissen Ausgangs weiterzumachen.
Die Krise als Inszenierung
„Geschichten schaffen Handlung, Struktur, Sinn und Zweck, Tugend und Laster, Lohn und