Verbrechen und kein Ende?. Wunibald Müller

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Verbrechen und kein Ende? - Wunibald Müller

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hat längst noch nicht genug getan

      Um welche Maßnahmen und Konsequenzen es sich dabei handelt, ist nicht erst seit der MHG-Studie, sondern seit Jahrzehnten bekannt. Neben anderen habe ich in den zurückliegenden Jahren, ja man kann sagen Jahrzehnten, gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, zum ersten Mal bereits 1996 in der Herder-Korrespondenz. Danach gibt es u. a. einen Zusammenhang zwischen dem hohen Vorkommen sexualisierter Gewalt im Kontext der Kirche und dem Zölibat, der Einstellung der Kirche zur Homosexualität, homosexuellem Verhalten und homosexuellen Priestern, der Morallehre der katholischen Kirche im Bereich menschlicher Sexualität und schließlich dem Fehlen von weiblichem Führungspersonal in der Kirche und vor allem dem Klerikalismus. Sie sind nicht die Ursache dafür, können aber die Ausübung sexualisierter Gewalt mit verursachen, sie begünstigen und stellen somit einen Risikofaktor dar.

      Die Betonung liegt dabei auf Risikofaktor. Wenn ich aber weiß, dass etwas mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, muss ich besonders gut darauf achten, dass dieses Verhalten, diese Einstellung die Ausübung sexualisierter Gewalt, also die Ausübung eines Verbrechens, nicht begünstigt. Ich muss weiter alles tun, was dazu beiträgt, das zu verhindern, bis dahin, dass ein Verhalten, eine Praxis, eine bestimmte Einstellung geändert wird. Solange in diesem Bereich keine entscheidenden Veränderungen erfolgen, vor allem keine schonungslose Auseinandersetzung mit dem Klerikalismus, der sexualisierte Gewalt in der Kirche erleichterte und zu deren Verharmlosung beitrug, stattfindet, wird das Problem sexualisierter Gewalt in der Kirche nicht angemessen angegangen, geschweige denn gelöst werden.

      Damit die Kirche aber so weit kommt, sie nicht Gefahr läuft, sich wieder schuldig zu machen, müssen aber auch endlich die notwendigen weitergehenden Konsequenzen gezogen werden, die sich aus der Krise ergeben. Sich bewusst zu machen, dass es sich bei dem missbräuchlichen Verhalten von Mitarbeitern der Kirche und dem Vertuschen eines solchen Verhaltens nicht um Bagatellfälle, sondern schwerwiegende Verbrechen und Verfehlungen handelt, kann helfen, endlich bereit zu sein, diese weitergehenden Konsequenzen anzugehen.

      Doch auch und selbst das reicht inzwischen nicht aus, um die Schäden, die die Erschütterung, welche die Missbrauchskrise ausgelöst hat, in der Kirche angerichtet hat, zu beheben, den immensen Vertrauensverlust, den die Kirche erlitten hat, wiederherzustellen. Die Missbrauchskrise hat nämlich deutlich gemacht: An der Kirche selbst ist etwas faul. Der üble Geruch, der von sexualisierter Gewalt in der Kirche und dem lieblosen Umgang der Bischöfe mit den betroffenen Opfern ausging, kommt aus dem Innersten der Kirche. Er kommt von der Fäulnis, die die Kirche befallen hat, die in der Gestalt des klerikalen Systems ihre stärkste Ausprägung gefunden hat und bis heute darin ihren Ausdruck findet. Denn, so muss man sich fragen, was ist das für ein System, in dem Personen, die Verantwortung tragen, über Jahrzehnte den Schrei der Betroffenen nicht gehört haben, nicht hören wollten, unterdrückt haben? Deren Herz sich nicht vor Schmerz gekrümmt hat angesichts deren Schicksale?

      So hat die Missbrauchskrise die Kirche, die mit dem Pontifikat von Papst Franziskus dabei war, sich etwas von der Schreckensherrschaft seiner Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die von einer innerkirchlichen Atmosphäre der Angst und der Sanktionen gegen missliebige Theologen geprägt war, zu erholen, wieder eingeholt und gezwungen, sich mit ihrer unerlösten Seite auseinanderzusetzen. Das heißt, die weitergehenden Konsequenzen, die u. a. den Pflichtzölibat, die Einstellung zur Homosexualität, die Morallehre der Kirche, die Rolle der Frauen und vor allem das klerikale System der Kirche betreffen, sind längst auch ohne die Missbrauchskrise fällig. Diese hat lediglich mit dazu beigetragen, dass ihre Notwendigkeit noch einmal deutlicher wird, und gezeigt, wie notwendig es ist, endlich die sanatio in radice, die gründliche, radikale Erneuerung der Kirche, in den Blick zu nehmen. Dem Reinigungsprozess nicht länger aus dem Weg zu gehen, der die Voraussetzung dafür ist, dass es mit der Kirche weitergeht. So weit ist aber die Kirche noch lange nicht, so sehr und so gerne man das alles am liebsten hinter sich lassen und nach vorne schauen will. Jetzt gilt es daher zunächst, so schwer das vielen in der Kirche fallen wird und fällt, den Blick in diesen Abgrund, der Unfassbares ans Tageslicht gebracht hat, zu wagen und auszuhalten. Denn was nicht angenommen ist, kann nicht geheilt werden.

      Diese Erkenntnis gilt es zu beherzigen, wenn man sich jetzt damit auseinandersetzt, wie es weitergeht. Beschönigungen helfen da nicht weiter. Auch wenn man will, dass die Kirche irgendwann von den Menschen nicht länger eine Täterorganisation oder gar Verbrecherorganisation genannt wird. Es fängt damit an, wie im Vorwort bereits erwähnt, zuerst den Täter, den Verbrecher, zu sehen, der Priester, Bischof ist, und nicht zuerst den Priester zu sehen, der Täter ist, ohne ihn dabei allerdings darauf zu reduzieren. Es schärft unseren Blick, lässt uns genauer hinschauen und stärkt unsere Bereitschaft, konsequenter vorzugehen. Einmal, wenn ein Priester sexuelle Gewalt ausübt. Dann aber auch, wenn es darum geht, zu entscheiden, wer zum Priesteramt zugelassen wird. Den Täter bzw. den potentiellen Täter erst gar nicht zum Priester zu weihen, zum Bischof zu ernennen, setzt freilich voraus, noch genauer hinzuschauen auf den, der diesen Weg gehen will. Noch klarer zu benennen, was die Voraussetzungen sind, die dafür gegeben sein müssen. Endlich die Lebensformen, die Umstände, die Gegebenheiten, die es potentiellen Tätern ermöglichen und erleichtern, zu Tätern zu werden, zu beseitigen.

      Ein solches Vorgehen, bei dem ich genau hinschaue, nichts verharmlose, wird dann aber auch dazu beitragen, deutlich zu machen, dass die überwiegende Mehrheit der Priester und Bischöfe keine Verbrecher sind. Wenn die Kirche die notwendigen Konsequenzen zieht, die sich aus der Missbrauchskrise ergeben, wenn sie sich dem Reinigungsprozess aussetzt, der mit dieser Krise einhergeht, hat sie auch die Chance, in den Augen vieler – wieder – zu einem Ort zu werden, an dem Menschen ihre spirituelle Heimat finden.

      Die Kirche ist verwundet. Dabei handelt es sich um eine Wunde, die sich die Kirche, ihre Elite sich zum Teil selbst zugefügt hat und zufügt. Diese Wunde haben die Opfer sexualisierter Gewalt, denen damit ein unsägliches Leid zugefügt wurde und wird. Diese Wunde sehen wir aber auch bei den Gläubigen, deren Gutgläubigkeit und deren Glaube durch das Verhalten der Missbrauchstäter und der vertuschenden Bischöfe erschüttert wurden. Sie betrifft schließlich auch die Täter, deren Integrität durch ihr Verhalten fundamental verletzt wurde.

      Wie tief diese Wunde ist, wie viel Leid und Entsetzen sie auslöst, ist mir unter anderem bewusst geworden bei den Reaktionen, die der arte-Film „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ auslöste, der sich mit sexueller Gewalt gegen Nonnen durch Priester, unter ihnen auch Bischöfe, befasste. Übrigens ein Bereich, der beim Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche nicht hinreichend berücksichtigt wird und gerade an dieser Stelle, wo es um den Umgang der Kirche mit Sexualität an sich geht, besonderer Beachtung bedarf: die sexualisierte Gewalt gegen Erwachsene durch Priester.

      Daher ist es notwendig, die Finger in die Wunde zu legen. Auch wenn es weh tut. Denn manchmal muss eine Wunde erst vertieft werden, muss der Schmerz in seiner ganzen Schärfe zugelassen und ausgehalten werden, damit die Wunde wieder heilen kann. Solange man versucht, den eigentlichen Schmerz zu vermeiden, macht man sich etwas vor. Es gelingt einem vielleicht, den Schmerz vorübergehend zu lindern. In Wirklichkeit quält man sich aber unentwegt damit ab und verhindert, die schmerzhafte Situation zu verändern. Das geschieht erst, wenn man, nachdem man den Schmerz durchgestanden hat, die notwendigen Konsequenzen zieht, die notwendigen Entscheidungen trifft, die sich aus der Krise ergeben, und sich auf Neues einlässt.

      So ist es zwar zu begrüßen, wenn die deutschen Bischöfe auf ihrer Herbstvollversammlung 2019 sich weder von Rom noch von einigen Bischöfen wie Bischof Voderholzer und Kardinal Woelki davon abhalten ließen, sich im Rahmen eines synodalen Weges auf einen Dialog zu Fragen von Macht in der Kirche, priesterlicher Lebensform, Sexualmoral und Stellung der Frau in der Kirche einzulassen. Das ist angesichts des Bruchs zwischen der Lehre der Kirche und dem Lebensstil der Menschen überfällig. Auch ist es

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