Verhüllung. Andreas Tunger-Zanetti

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Verhüllung - Andreas Tunger-Zanetti

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argumentiert hier für heutige Ohren recht wirr: Mal geht es um Tradition, dann um die «Natur», um Geschlechterrollen gemäss der Schöpfung. Max Küchler, Professor für Neues Testament, frühjüdische Literatur und biblische Umwelt, hat die Paulus-Passage sowie weitere frauenfeindliche Stellen des Neuen Testaments ausführlich seziert und gezeigt, dass sie für die Zuhörerschaft ihrer Entstehungszeit durchaus argumentative Überzeugungskraft besassen; diese Kraft stamme allerdings, wie er ebenfalls minutiös zeigt, «aus jener von Männern für Männer geschaffenen Exegese, in welcher selbstverständlich die Bibel zu ungunsten der Frauen ausgelegt und nacherzählt wurde».11 In dieser Tradition erstaunte es im ersten christlichen Jahrhundert niemanden, wenn Paulus anmahnt, dass Frauen sich den Kopf bedecken sollen. Gut passt hierzu im Übrigen der Umstand, dass Paulus als Jude in Tarsus (heutige Südtürkei) aufwuchs, wo die Verhüllung der Frauen strikter als andernorts Brauch war.12

      Kirchenväter wie Clemens aus Alexandria (ca. 150–215 n. Chr.) und Tertullian von Karthago (ca. 150/160–222 n. Chr.) haben Paulus’ Position zur Kopfbedeckung der christlichen Frau aufgenommen und ausgebaut. Nach Clemens’ Vorstellung soll sich die Frau verhüllen, um durch ihre Schönheit niemanden zur Sünde zu verleiten. Tertullian, der nach längerer Karriere in Rom als vermögender Privatier in Karthago nahe dem heutigen Tunis lebte und selbst nicht Priester war, legte gar in einem eigenen Traktat dar, «Warum die Jungfrauen verschleiert sein sollten». Seiner Meinung nach sollen die Christinnen, ob verheiratet oder nicht, auf hübsche Kleidung und Schmuck verzichten und sich beim Verlassen des Hauses verschleiern: «[…] Sie sollten wissen, dass ihr ganzer Kopf ein Weiberkopf ist, seine Grenzen und Enden erstrecken sich bis dahin, wo das Kleid anfängt. So weit als sich das aufgelöste Haar erstreckt, so weit geht das Gebiet des Schleiers, so dass auch der Nacken umhüllt wird. Denn dieser ist es, der unterwürfig sein soll, um dessentwillen das Weib auch eine Gewalt über seinem Haupte haben muss. Der Schleier ist also das Joch für ihn. Es werden Euch die heidnischen Frauen Arabiens beschämen, welche nicht bloss ihr Haupt, sondern auch das ganze Gesicht derart verhüllen, dass es ihnen genügt, wenn sie ein einziges Auge frei haben und die lieber das Licht nur halb geniessen, als ihr ganzes Antlitz prostituieren. Die Frau will lieber sehen, als gesehen werden.»13

      Bereits um das Jahr 200 n. Chr. vertritt hier also einer der Kirchenväter normative Positionen, wie man sie heute im Westen üblicherweise nur bei besonders rigorosen Salafis vermuten würde. Wenn Tertullian dabei seinem Publikum die Frauen der weit entfernten Arabischen Halbinsel als Vorbild hinstellt, wird deutlich, dass das weitgehende Verhüllen des Gesichts offenbar als dortige lokale Sitte international bekannt war – vierhundert Jahre vor der Entstehung des Islams. Dass sich auch auf der Arabischen Halbinsel längst nicht alle Frauen so umfassend verhüllten, unterschlägt der Kirchenvater.14 Zugleich lässt sich aus der energischen Predigt dieses und anderer Kirchenväter ablesen, dass die Christinnen in ihrem Umfeld es mit der Kleidung offenbar ebenfalls nicht durchweg so streng nahmen wie angemahnt, denn sonst wäre diese Art von Traktaten nicht nötig gewesen.

      Eine Kopfbedeckung zu tragen – egal ob Schleier, Kopftuch, Haube oder Hut –, war dennoch für viele Frauen in christlichen Kontexten bis ins frühe 20. Jahrhundert gängige Praxis. Bekannt ist auch, dass der Schleier seit je zum Habit von Schwestern in christlichen Orden und Kongregationen gehört. Mit dem Eintritt in die Gemeinschaft wird die Schwester nach der gängigen Metaphorik eine «Braut Christi», ihr Schleier ist somit ein Brautschleier im übertragenen Sinn.

      Je nach Gemeinschaft hat der Schleier wieder eine andere Form, bedeckt teils das ganze Haar oder wird zur aufgesteckten kleinen Haube.15 Die Schwestern mancher Gemeinschaften tragen den Habit samt Schleier bis heute. Doch seit den Reformen im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils verzichten manche Gemeinschaften auf das Tragen im öffentlichen Raum oder lassen ihren Mitgliedern die Wahl.

      Die weibliche Kopfbedeckung unter christlichen Vorzeichen ist nicht auf die römisch-katholische Kirche beschränkt. Unter den aus der Reformation hervorgegangenen Traditionen tragen beispielsweise die Frauen bestimmter Mennonitengruppen, der Amish People oder der Hutterer noch heute das bonnet, eine das Haar weitgehend bedeckende Haube.

      In vorislamischer Zeit waren, wie oben gesehen, unterschiedliche Formen des Schleiers in Westasien und Nordafrika vor allem bei jenen Frauen anzutreffen, die damit einen höheren gesellschaftlichen Status markieren wollten. Die Grenzen von Religion und Kultur waren dabei durchlässig. Aus diesem antiken Reservoir schöpft, wie zuvor das Christentum, auch die Kultur des frühen Islam, die im 7. Jahrhundert n. Chr. auf der Arabischen Halbinsel entstand. Dort waren in bestimmten Stämmen nicht zuletzt mehrere verschiedene Formen des Gesichtsschleiers für Frauen anzutreffen,16 während sich umgekehrt einzelne freie Frauen auch im frühislamischen Arabien unverschleiert in der Öffentlichkeit zeigten.17

      Schon der Prophet Muhammad verstand die von ihm vermittelte Lehre in ihrem religiösen Kern gewissermassen als verbesserte Neuauflage des bei Juden und Christen bekannten Ein-Gott-Glaubens. Zahlreiche ethische Grundsätze und Haltungen finden sich daher in allen drei religiösen Grosstraditionen in ganz ähnlicher Form.

      Wie das frühe Christentum eignete sich der frühe Islam Bestehendes an, interpretierte es aber da und dort neu. Dabei fallen vor allem Parallelen zwischen der Entwicklung im frühen Christentum und im frühen Islam auf. Die Begründer beider Lehren, Jesus und Muhammad, zeichnen sich durch einen bewussten, aber gelassenen Umgang mit Frauen aus. Nach dem Tod der Religionsstifter lässt sich jeweils eine Verengung beobachten. Die zumeist männlichen Sachwalter der noch jungen Tradition versuchten diese «unverfälscht» zu bewahren. Da zugleich neuartige Situationen zu bewältigen und die Lehren in Hinblick hierauf zu interpretieren waren, entstanden unweigerlich die unterschiedlichsten und auch widersprüchlichsten Fortsetzungen. Im Fall des Islams wie des Christentums wurden in Bezug auf die Kleidung der Frauen auf lange Zeit jene patriarchalen Kräfte und Interpretationen bestimmend, die sich im Sinne Tertullians äusserten. Dies sei hier, beginnend mit dem Koran, kurz skizziert.18

      Musliminnen und Muslimen gilt der Koran als Gottes Botschaft an die Menschen, an der sie ihr Leben ausrichten. Der Koran stellt dabei eine Sammlung von sehr unterschiedlichen, teils liturgischen, teils predigthaften Texten dar, die Muhammad gemäss muslimischer Auffassung in den Jahren 610 bis 632 n. Chr. in Mekka und in Medina empfangen hat. Zunächst vorwiegend mündlich überliefert, wurden diese Offenbarungen bald nach Muhammads Tod gesammelt und zu einem festen Textkorpus vereinigt.

      Interpretinnen und Interpreten des Korans argumentieren bei der Verschleierungsfrage hauptsächlich mit fünf Passagen: Sure 24:30–31, 24:60, 33:32–33, 33:53 sowie 33:59. Jede von ihnen ist kontextgebunden und interpretationsbedürftig, und in keiner von ihnen fordert der Wortlaut der göttlichen Botschaft explizit die Verhüllung des Haares oder gar des ganzen Hauptes. Als Beispiel für die Interpretationsspielräume sei Sure 33, Vers 53 angeführt: «[…] Und wenn ihr sie [d. h. die Gattinnen des Propheten] um (irgend) etwas bittet, das ihr benötigt, dann tut das hinter einem Vorhang! […].» (Koran, Übersetzung Paret)

      Das hier mit «Vorhang» übersetzte Wort ḥiǧāb bezeichnet heute üblicherweise ein einzelnes Kopftuch, das alles Haar bedeckt, das Gesicht aber freilässt. Der Koranvers jedoch bezieht sich auf eine auch ausserkoranisch überlieferte Situation und ermahnt die männlichen Gäste im Hause Muhammads, dessen Gattinnen nicht zu direkt zur Last zu fallen. Der ḥiǧāb in der Wohnung ist als eine Art «Vorhang» oder «Abschirmung» aufzufassen, woraus eine bestimmte Lesart wiederum das Prinzip der Segregation zwischen Männern und Frauen ableitet.

      An dieser wie den weiteren Stellen mahnt der Koran damit die Männer ebenso wie die Frauen zu Sittsamkeit und Anstand: Der Schambereich ist bedeckt zu halten, aufreizendes oder anzügliches Verhalten zu vermeiden usw. Konkret sind die Verse teils nur an die Frauen des Propheten gerichtet, teils an alle Gläubigen.

      Da

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