Verhüllung. Andreas Tunger-Zanetti

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die frühe islamische Tradition an den Berichten, den sogenannten Hadithen, über das Leben Muhammads, das als das beste Vorbild für islamische Lebensführung gilt. Mehrere Zehntausend solcher kurzer Episoden sind überliefert, etliche Tausend von ihnen von der frühen kritischen Tradition als authentisch befunden worden.19 Unter dem Begriff Sunna, «guter Brauch», wurde dieses weitverzweigte Korpus ab dem zweiten Jahrhundert islamischer Zeitrechnung neben dem Koran zur zweiten normgebenden Textquelle.

      Waren unter den ersten Überlieferern noch etliche Frauen, so dominierten bei der Weitergabe und noch mehr bei der Auslegung immer mehr die Männer. Die marokkanische Feministin Fatima Mernissi klagt bereits den ersten Kalifen, Abu Bakr, an, interessengeleitet frauenfeindliche Hadithe verbreitet zu haben, als Überlieferer von Prophetenworten jedoch sehr zweifelhaft zu sein.20

      So entstand bereits in den ersten Generationen nach Muhammads Tod (632 n. Chr.) jener breite Konsens, der besagt, dass bei der Frau wie beim Mann die Blösse (aura) bedeckt sein soll. Der Begriff verweist seiner primären Bedeutung nach auf einen Mangel, am menschlichen Körper eben auf jenen Bereich, der aus Scham verdeckt werden soll. Wie aber ist diese Blösse definiert? Beim Mann ist es für die praktisch ausschliesslich männlichen muslimischen Juristen der Bereich zwischen Bauchnabel und Knien. Bei der Frau verstehen sie sie wesentlich umfassender, aber auch unterschiedlicher. Gehört das Gesicht dazu, gar die Stimme? Die Position der breiten Mehrheit besagt, dass die Blösse bei der freien Frau alles umfasst ausser das Gesicht und die Hände, sie somit alles Übrige, insbesondere das Haar, bedecken solle; die Blösse der Sklavin hingegen war annähernd wie die des Mannes bestimmt. Bereits der zweite Kalif, Umar (reg. 634–644 n. Chr.) erliess weitere einschränkende Anordnungen, welche die Frauen betrafen.21

      Die islamische Welt vergrösserte sich rasch und umfasste Gesellschaften von Westafrika bis Zentralasien. Aus dem Zusammentreffen regionaler Kulturen mit «islamischen» Grundsätzen gingen in Bezug auf die Bedeckung des Haares oder des Gesichts von Frauen die unterschiedlichsten Regelungen und Formen hervor, auch abhängig von der Politik der Machthaber und von gesellschaftlichen Moden. Als breit anerkannte Norm für Frauen setzte sich nicht der Gesichtsschleier durch, sondern nur das Bedecken des Haars. Es waren begrenzte Regionen oder soziale Schichten, in denen Gesichtsverschleierung bei Frauen regelmässig anzutreffen war, so in früheren Zeiten in Teilen Ägyptens und Syriens sowie bis heute in Teilen Afghanistans und Pakistans. Von der frühesten bis in die jüngere islamische Geschichte hinein fällt dabei auf, dass ganz allgemein die Kleidung der Frau weniger das Tummelfeld von Sachwaltern und Interpreten des religiösen Rechts als vielmehr eine jeweils soziale, oft schichtspezifische Angelegenheit ist.22

      Eine zentrale Rolle spielt zusätzlich der Begriff der Ehre, welcher den religiösen Normen gerade in ländlichen – nicht nur islamischen – Gesellschaften noch vorgelagert ist. Die Ehre einer Familie hängt dabei unter anderem vom schicklichen Verhalten ihrer weiblichen Mitglieder ab. Verantwortlich für die Wahrung der Ehre oder ihre Wiederherstellung ist dabei stets ein Mann.23

      Wie in anderen Bereichen, so veränderte der starke machtpolitische und technologische Einfluss Europas seit der Wende zum 19. Jahrhundert die Dinge in der islamischen Welt. Fragen rund um die jeweilige kulturelle Identität, um den Platz von Religion, um Rechte, Geschlechterrollen und «Modernität» wurden seither immer wieder neu verhandelt. Von etwa 1860 bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein vollzog sich ein «Entschleierungsprozess»: «Binnen zweier Generationen war im Einzugsgebiet des Osmanischen Reiches zumindest für Gruppen mit einem höheren sozialen Status die Entschleierung des Gesichts zur Regel geworden.»24 Diese Tendenz setzte sich vor allem in Ländern wie der Republik Türkei oder Tunesien noch länger fort. Der Druck zur Entschleierung im realen Leben schmälerte freilich keineswegs die Schleierfantasien der westlichen Orientalismustradition.

      Zugleich wertete der Diskurs in arabischen Ländern bereits ab den 1930er-Jahren den Hijab, das einfache Kopftuch, zunehmend als Anzeichen der Frömmigkeit. Die zumeist männlichen Diskursteilnehmer brachten ein Kleidungsstück, das zuvor je nach Kultur anders ausgesehen und auf eine soziale Schicht hingewiesen hatte, nun zunehmend mit islamischen Tugendnormen in Verbindung. Zu dieser Codierung gehörte auch, die Norm als ursprünglich islamisch zu begreifen und ihre Aneignung zugleich als so persönlich, dass sie sich durchaus auch in Spannung zu den Wünschen des zuständigen Mannes (Vater, Ehemann) befinden konnte:25 Ein Schleier, auch in Form eines Gesichtsschleiers, kann also sogar als Vehikel und Ausdruck einer individuellen Emanzipation dienen; und er tut dies, wie wir zeigen werden, in westeuropäischen Gesellschaften tatsächlich. Dies kann freilich nur in relativ freien Gesellschaften geschehen. Wo, wie in Iran seit der Revolution von 1979, das Bedecken des Haares vorgeschrieben ist, steht diese Option nicht zur Verfügung.

      Die Musliminnen, die heute im Westen ein Kopftuch tragen, tun dies in der Regel aus eigener Überzeugung. Zwar spielt oft bei jungen Frauen, die noch bei den Eltern wohnen, sozialer Druck durchaus mit: Manch eine Frau mag es als kleineres Übel ansehen, traditionelle Erwartungen der Eltern bezüglich Bedeckung oder Familienehre zu erfüllen, um sich dadurch eine gewisse Bewegungsfreiheit ausser Haus zu erhalten. Häufiger und mit zunehmendem Alter jedoch entspringt die Praxis der eigenständigen Beschäftigung mit der Religion der Eltern, und nicht selten tragen junge Frauen das Kopftuch sogar gegen den Wunsch eher säkular eingestellter Eltern. Weiter kann das Kopftuch auch Zugehörigkeit oder Abgrenzung signalisieren; und auch der Wunsch nach einem Schutz im als sexualisiert wahrgenommenen öffentlichen Raum kann ein damit verbundenes Motiv sein. Insgesamt tragen die Töchter und Enkelinnen von Einwanderinnen das Kopftuch deutlich weniger als die erste Generation.26 Den Motiven, speziell den Gesichtsschleier zu tragen, gehen wir weiter unten (siehe Seite 32) nach.

      Die muslimische Frau habe ihr Haar zu bedecken – diese Norm ist, wie soeben gesehen, in Gesellschaften und Milieus quer durch die Epochen und Regionen der islamischen Welt sehr breit akzeptiert. Von einem Konsens bezüglich Gesichtsbedeckung kann hingegen keine Rede sein, weder in mehrheitlich muslimischen Ländern noch im Westen Europas, auf den wir uns hier konzentrieren. Wie also kam es, dass der Gesichtsschleier, insbesondere der Nikab, in den letzten Jahrzehnten je nach Kontext auffällig häufiger anzutreffen ist als zuvor?

      Es handelt sich um ein Phänomen der Moderne, keinesfalls um das einer Rückkehr verloren gegangener Tradition. Erklären lässt es sich mit den umfassenden Prozessen der Individualisierung, der Pluralisierung und der Globalisierung. So ist derselbe Typ des Gesichtsschleiers, nämlich der Nikab, heute sowohl in Kairo anzutreffen als auch in Zürich oder Toronto. Das globale Phänomen ist allerdings bei der jeweils ansässigen Bevölkerung unterschiedlich häufig. Während sich in Kairo auch Kleiderläden mit einer Auswahl an Nikabs finden lassen, ist in Zürich nur schon der Anblick einer Nikab-Trägerin eine Seltenheit. Individuell ist jeweils weniger die konkrete Ausgestaltung des Gesichtsschleiers, sondern, zumindest im Westen, der Weg der Trägerin zu dieser Praxis – und auch wieder weg von ihr (siehe Seite 32). Keine Tradition, keine Herkunft und auch nicht der Koran gibt ihr hier das Tragen des Gesichtsschleiers vor, sondern die Frau wählt in einer pluralen Gesellschaft eine bestimmte Option, die nur in einem eng begrenzten salafistischen Milieu Ansehen geniesst.27 In mehrheitlich muslimischen Ländern mit breiten konservativen Milieus und hohem Konformitätsdruck können die Dinge anders aussehen.

      Gerade weil die Option des Gesichtsschleiers im Westen so selten gewählt wird, sieht sich eine Nikab-Trägerin immer wieder in der Situation, ihre Praxis begründen und erläutern zu müssen – gegenüber dem persönlichen und weiteren Umfeld, aber auch für sich selbst. Und da Nikab-Trägerinnen den Gesichtsschleier für sich mit der Religion verbinden, suchen sie sich Begründungen, die ihre Praxis rechtfertigen. So wurde auch die Nikab-Trägerin Nora Illi, «Beauftragte für Frauenangelegenheiten» des Islamischen Zentralrats Schweiz, nicht müde, öffentlich zu betonen, dass «es sich bei

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