Lebendige Seelsorge 5/2018. Verlag Echter

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Lebendige Seelsorge 5/2018 - Verlag Echter

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die Auseinandersetzungen um den Inhalt des Glaubens in seinen pluralen Gestalten für den Glauben selber hat, ist eine Erkenntnis, an die Theologie nicht nur erinnern kann, sondern sich auch selbst erinnern muss, weil eben die Erinnerung nottut, dass es keine einheitliche Tradition gibt, sondern sie stets pluriforme Ausgestaltungen hatte. Umso mehr könnte es das Anliegen kirchlicher Lehre sein, mit der Tradition die Vielgestaltigkeit, mit anderen Worten, die vielen Formen des Dissenses nicht als Krise, sondern als angemessene Gestalt von Kirche zu verstehen.

      Dass dies nicht allein als graue systematischtheologische Theorie zu verstehen ist, zeigt die aktuelle Veränderung der Bewertung der Todesstrafe, wie sie Papst Franziskus am 02.08.2018 vollzogen hat und in diesem Kontext die entsprechende Stelle im Katechismus veränderte. „Heute gibt es ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die Würde der Person auch dann nicht verloren geht, wenn jemand schwerste Verbrechen begangen hat. Hinzu kommt, dass sich ein neues Verständnis vom Sinn der Strafsanktionen durch den Staat verbreitet hat. Schließlich wurden wirksamere Haftsysteme entwickelt, welche die pflichtgemäße Verteidigung der Bürger garantieren, zugleich aber dem Täter nicht endgültig die Möglichkeit der Besserung nehmen. Deshalb lehrt die Kirche im Licht des Evangeliums, dass ‚die Todesstrafe unzulässig ist, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt‘, und setzt sich mit Entschiedenheit für deren Abschaffung in der ganzen Welt ein“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2267). Mit diesem Beispiel kann verdeutlicht werden, dass sich die Lehrmeinung der katholischen Kirche aufgrund der Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit (hier die Strafrechtssysteme) als auch auf der anthropologischen Verfassung des Menschen (auch als Verbrecher kein Würdeverlust) verändern kann und dies als evangeliumskonform verstanden wird. Dies wurde aber bis ins Jahr 1969 im Vatikanstaat in gegenteiliger Form erlaubt (also die Todesstrafe). Dieses Beispiel ist auch deswegen weitreichend, weil es die Argumente an die Hand gibt, die in den genannten Dissensbeispielen ebenso gelten: Veränderung gesellschaftlicher und/oder rechtlicher Voraussetzungen sowie anthropologischer Grundannahmen als auch, würde ich als These in den Raum stellen, ein Lernen der Institution in ihren Glaubensaussagen. Wieso also, können (noch) an der Kirche Interessierte fragen, geht dies nicht auch in den Themen der Ehe- und Sexualmoral, der Gleichberechtigung, der Anerkennung der Menschenrechte?

      VIELFÄLTIGKEIT ALS „TYPISCH KATHOLISCH“ VERSTEHEN UND PRAKTISCHE KONSEQUENZEN ZIEHEN

      Die Vielfältigkeit von Traditionen war nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall kirchlichen und theologischen Lebens! Wäre es also denkbar, dass sich die Gestaltung kirchlicher Realität am Konflikt und Dissens orientiert? Dies würde einen deutlichen Schritt weiter gehen, als den Ausgetretenen zuzuhören. Es würde bedeuten, die Austretenden und die Ausgetretenen als Subjekte aktiver theologischer und kirchlicher Gestaltung zu verstehen, als Teil der Traditionsbildung. Nur mit ihnen kann und sollte eine Theologie und mit ihr kirchliche Instanzen auf eine Gestalt von Kirche reflektieren, die ein Modell von Pluralität und Einheit zu denken versuchen sollte. Oder sogar muss? Richard Gaillardetz argumentiert deutlich für die Notwendigkeit, die binäre Struktur von orthodoxem Glauben und abweichendem Glauben zu verlassen, und dem Wunsch nach Einheit als Einheitlichkeit gerade nicht nachzugeben (vgl. Gaillardetz, 132).

      In der Vorlesung und Übung in diesem Semester, in der ich die „Kirchenaustrittsstudie“ mit den Studierenden bearbeitet und diskutiert habe, hatte ein Student bei der Vorstellung der Austrittskriterien einen wunderbaren Versprecher: „Aus der fehlenden Bindung zur Kirche als Austrittsgrund“ wurde „die fehlende Bindung der Kirche.“ Dieser Versprecher öffnet aber genau die theologische Denkrichtung, die bereits figuriert worden ist: nur in einer Bindung der Kirche an die Menschen und ihre Zeit kann sie der Ort sein, der für die jeweilige Zeit Heils-Zeit sein kann. Die Sorge um die Transzendenz sollte sie nicht sorgen, denn dafür sorgt ihre Darstellung ihres bezeugten Grundes, den sie ja gerade nicht herstellen muss.

       LITERATUR

      Etscheid-Stams, Markus/Laudage-Kleeberg, Regina/Rünker, Thomas (Hg.), Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss, Freiburg 2018.

      Gaillardetz, Richard, Beyond Dissent: Reflections on the Possibilities of a Pastoral Magisterium in Today’s Church, Theological Roundtable, in: Horizon 45 (2018) 132–136.

      Hinze, Bradford, Dissenting Church: New Models for Conflict and Diversity in the Roman Catholic Tradition, in: Horizon 45 (2018) 128–132.

      Ders., The Grace of Conflict, in: Theological Studies (forthcoming).

       Vom Wert des Zuhörens

      Die Replik von Ulrich Riegel und Tobias Faix auf Gunda Werner

      Gunda Werner schlägt in ihrem Beitrag vor, Dissens nicht mehr als Gefahr kirchlichen Zusammenhalts zu deuten, sondern als Weg (inner-)kirchlicher Klärungsprozesse. Hierzu zwei kurze Anmerkungen: Erstens, dass ein sachorientierter Dissens im Sinn Gunda Werners funktioniert, liegt auf der Hand. Was aber passiert, wenn dissente Positionen emotional unterlegt sind? Im Arianismus-Streit lässt sich wunderbar studieren, wie ein inhaltlicher Formelkompromiss scheitert, weil die Gegner persönlich nicht mehr miteinander klarkommen. Gerade im religiösen Bereich berühren inhaltliche Fragen oft die eigene Identität. So erweist sich der Austrittsprozess vielfach nicht als Ergebnis inhaltlicher Dissonanz, sondern als Konsequenz persönlicher Enttäuschungen und Verletzungen. In dieser Hinsicht wäre es spannend, von Gunda Werner mehr darüber zu erfahren, welche Rolle die affektive Dimension in ihrer Idee spielt, Dissens als ein Prinzip des kirchlichen Miteinanders heranzuziehen.

      Zweitens: Der Dissens als Form des kirchlichen Miteinanders bedarf organisierter Plattformen. Die kirchliche Tradition kennt in der via concilii eine solche Plattform, die zudem in den verschiedenen Räten auf weltkirchlicher, diözesaner und gemeindlicher Ebene gut etabliert ist. Im Unterschied zum protestantischen Christentum mit seiner synodalen Verfasstheit ist die via concilii im römisch-katholischen Christentum sehr oft schlecht beleumundet (vgl. z. B. www.kathpedia.com/index.php/Konziliarismus). Dass eine solche via concilii in der römisch–katholischen Kirche nur in Kollegialität mit dem Papst (bzw. den jeweils vor Ort verantwortlichen kirchlichen Repräsentanten) zu denken ist, schränkt sie allerdings nicht ein, sondern spezifiziert sie in einer typischen Weise. Sie gemahnt aber auch der besonderen Verantwortung, die diesem Amt bzw. diesen Ämtern zu eigen ist, wenn es darum geht, Dissens bzw. Vielstimmigkeit zu moderieren. In dieser Hinsicht ist einschlägig, dass die Klage über die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei kirchlichen Amtsträgern zu den klassischen Austrittsmotiven gehört.

      Welche Rolle können Ausgetretene in einer Kirche spielen, die ihr Miteinander am Dissens und Konflikt orientiert? Gunda Werner sieht die Chance, dass Ausgetretene in einer solchen Kirche „Subjekte aktiver theologischer und kirchlicher Gestaltung“ (S. 318) sein können. Das mag so sein, insbesondere dann, wenn mit dem Austritt noch nicht jegliches Interesse an Kirche verloren ist. Unsere Interviews zeigen, dass es solche Menschen durchaus gibt. Allerdings bringen viele Ausgetretene deutlich zum Ausdruck, dass sie mit dieser Kirche abgeschlossen haben. Diese Menschen ernst zu nehmen bedeutet auch, sie in Ruhe zu lassen und ihre Entscheidung zu akzeptieren. Weiterhin ist gerade bei den Menschen, die sich einstmals in der Kirche engagiert haben, der Austrittsprozess mit persönlichen Kränkungen verbunden, sodass es beim Austritt nicht nur um dissente kognitive Positionen geht.

      In allen diesen Fällen erscheint uns eine Kirche, die Ausgetretene als Subjekt im obigen Sinn versteht, als übergriffig. (Wir vermuten, dass Gunda Werner hier sofort zustimmen würde). Umgekehrt zeigen die Essener Erfahrungen eindrücklich, dass gerade das offensive Zugehen auf die Menschen, das Zuhören einen großen positiven Effekt in der Wahrnehmung von Kirche auslöst. Sowohl die von uns Angesprochenen als auch die Menschen, die medial von der Essener Studie mitbekommen haben, haben mehrheitlich erfreut reagiert, dass Kirche offensichtlich bereit ist, von Menschen, die ihr kritisch gegenüberstehen, zu lernen.

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