Doch, es gibt eine andere Wirklichkeit. Pierre Ferrière
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Lebensstationen und innerer Weg
BIOGRAFISCHE NOTIZEN
Ester (Etty) wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg/Niederlande in eine nicht praktizierende jüdische Familie hineingeboren. Ihr Vater, Louis Hillesum, war Lehrer für Alte Sprachen, später Gymnasialdirektor; die Mutter, Rebecca (Riva) Bernstein war mit ihrer Familie aus Russland emigriert. Etty hatte zwei jüngere Geschwister, Jacob (Jaap), der später Arzt wurde, und Michaël (Mischa), ein genialer Pianist, aber psychisch instabil; er litt unter schizophrenen Störungen.
1932 nahm Etty in Amsterdam das Studium der Rechtswissenschaft auf; später bezog sie dort zusammen mit ihren Brüdern eine Wohnung. Die politischen Entwicklungen verhießen nichts Gutes. 1933 wurde Hitler deutscher Reichskanzler, die Errichtung erster Konzentrationslager ließ nicht lange auf sich warten …
Neben ihren juristischen Studien vertiefte sich Etty ins Russische, die Sprache ihrer Mutter: Sie verstand es perfekt und gab einigen Schülern Privatunterricht. Gegen Ende ihrer Studienzeit, im Jahr 1937, zog Etty in das Anwesen von Han Wegerif, einem verwitweten nichtjüdischen Buchhalter, dessen Gefährtin sie wurde. Im Juli 1939 legte sie ihr Juraexamen ab.
Die politische Entwicklung wurde immer bedrängender. Am 10. Mai 1940 fielen deutsche Soldaten in die Niederlande ein. Die Naziherrschaft wirkte sich allmählich auch auf Ettys Leben aus und war auf bedrückende Weise allenthalben spürbar.
Bereits am 29. November 1940 wurde ihr Vater wegen seiner jüdischen Abstammung aus seiner Stellung als Gymnasialdirektor entlassen. Anfang 1941 zwang der Stadtkommissar von Amsterdam die jüdischen Honoratioren, einen „Judenrat“ zu bilden, der seine Anordnungen unter den Juden bekanntzumachen hatte.
Äußerlich war Ettys Leben von diesen Entwicklungen zunächst nicht allzusehr betroffen, wohl aber schlugen sich die Erschütterungen in ihrer inneren und physischen Befindlichkeit nieder. Um etwas dagegen zu unternehmen, konsultierte sie einen Psycho-Chirologen namens Julius Spier, einen 1887 geborenen deutschen Juden. 1939 hatte er aus Berlin fliehen müssen und in Amsterdam Zuflucht gefunden. Am 3. Februar 1941 suchte Etty ihn erstmals auf. Der Kontakt mit Spier half ihr langsam, aber sicher aus der Talsohle herauszukommen.
Es war Spier, der sie zum Schreiben ermutigte, um die Gefühlsschwankungen zu „besänftigen“. Im Verlauf der Therapie wuchs zwischen ihnen eine tiefe Zuneigung, die sie beide voller Leidenschaft lebten und als eine große „Herausforderung“, als „enorme Aufgabe“ verstanden. Etty hat nicht zuletzt dadurch zu ihrer einzigartigen Persönlichkeit gefunden. Die Beziehung mit Spier war ebenso vielschichtig wie schön, um es mit diesem einfachen Wort zu sagen; sie bestand bis zu Spiers Tod am 15. September 1942. Ettys Tagebucheinträge, die am 8. März 1941 beginnen, erscheinen anfangs wie eine einfache Wiedergabe der Sprechstunden bei Spier.
An demselben Tag, an dem Etty sich darangibt zu schreiben, begreift sie sich zum ersten Mal als Jüdin. Die Lage der Juden war überaus prekär; es kursierten Gerüchte einer planmäßigen Judenvernichtung in ganz Europa; man sprach von Deportationszügen in Richtung Vernichtungslager … Seit Mai/Juni des Jahres 1942 wurden die antisemitischen „Nürnberger Gesetze“ in den Niederlanden rigoros umgesetzt. Der Judenrat wurde kurz darauf über die bevorstehenden Deportationen informiert. Das Lager Westerbork im Nordosten des Landes wurde zu einem „Durchgangslager“; dort fuhren die Deportationszüge ab …
Im Juli 1942 bewarb sich Etty auf Drängen ihres Bruders Jaap brieflich um Aufnahme in den Judenrat. Kaum hatte sie diese Aufgabe übernommen, beantragte sie die Versetzung nach Westerbork. Dort absolvierte sie vier Arbeitseinsätze, unterbrochen durch vorübergehende, aufgrund einer tiefen Erschöpfung notwendige Aufenthalte in Amsterdam. Während ihres letzten Einsatzes in Westerbork wurde ihr dieses unheilvolle Lager als „Aufenthaltsort“ zugewiesen – nicht mehr in der Funktion einer Art Sozialarbeiterin für die verstörten, ihres düsteren Schicksals harrenden Menschen, sondern in der Erwartung ihrer eigenen Deportation.
Ihre Bemühungen, zumindest ihren Eltern und ihrem Bruder Mischa, die ebenfalls in Westerbork interniert waren, dieses Schicksal zu ersparen, waren vergeblich. Etty, Mischa und ihre Eltern wurden am 7. September in einen Deportationskonvoi „verladen“, zusammen mit 983 weiteren Personen, von denen nur acht überlebten. An jenem 7. September hat Etty Hillesum ihre letzte Karte durch einen Schlitz im Waggon auf das Schotterbett geworfen. Am 30. November 1943 starb sie in Auschwitz. Binnen weniger Monate erlitt ihre gesamte Familie dasselbe Schicksal, auch Jaap blieb nicht verschont.
In Westerbork hatte Etty weiter Tagebuch geschrieben. Hastig steckte sie die letzten Aufzeichnungen in den Beutel, den sie im Zug mitnehmen konnte. Diese Notizen sind unwiederbringlich verlorengegangen. Die zuvor geschriebenen Hefte hatte sie am 5. Juni einer Freundin übergeben können, unmittelbar vor ihrem letzten Aufbruch nach Westerbork. Auf verschlungenen Wegen sind sie nach Jahrzehnten ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Das letzte Heft endet mit dem Eintrag vom 13. Oktober 1942; aus der Zeit danach bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz haben wir eine Reihe von Briefen, die Etty an verschiedene Leute, mit denen sie seit den Aufenthalten in Westerbork befreundet war, geschrieben hat.
Dies sind, grob skizziert, die äußeren Eckpunkte ihres Lebens. Im Folgenden werden wir versuchen, Einblick zu gewinnen in innere Entwicklungen, in das, was Etty Hillesum bewegte, und uns mitnehmen lassen ins Gespräch mit jenem geheimnisvollen Gott, der im Buch der Weisheit „Freund des Lebens“ genannt wird (vgl. 11,26).
EIN EINZIGARTIGER INNERER WEG
Meditieren mit Etty Hillesum, dies mag manchen ein wenig gewagt erscheinen, war sie doch keine Christin. Aber ihr spiritueller Weg ist so bemerkenswert, ja überwältigend, dass es mehr als gerechtfertigt ist, sich von ihr inspirieren zu lassen. Von einem anfänglich ganz vagen, kaum bewussten religiösen Empfinden fand sie zu einem Leben in der fast ununterbrochenen Präsenz Gottes: „Es ist, als hätte sich etwas in mir einem beständigen Gebet überlassen: ‚Es betet in mir‘, selbst wenn ich lache oder scherze.“
Aufgrund der Originalität ihrer Erfahrung und ihrer einzigartigen Weise, darüber zu sprechen und davon Zeugnis zu geben, hat man Etty Hillesum als „nicht klassifizierbar“ bezeichnet. Es wurde gesagt, in ihren Texten scheine der Name Gottes „aller Tradition beraubt“. Doch auch wenn ihr innerer Werdegang wie ein persönlicher Sonderweg erscheint, auch wenn sie sich nie einer Kirche oder einem religiösen Bekenntnis angeschlossen hat, so heißt das nicht, dass sie sich unbeeinflusst von religiösen Traditionen entwickelt hätte. Sie war Jüdin, das Enkelkind eines Großrabbiners, und auch