Doch, es gibt eine andere Wirklichkeit. Pierre Ferrière
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So schildert Etty die Ausgangslage ihres Wegs der „Wiederherstellung“ und der Erweckung zu einem neuen Leben. Es war ein erstaunlich schnell durcheilter Weg, auf dem sie mit großen Schritten vorankam. Keine drei Jahre liegen zwischen der ersten Sitzung bei Julius Spier, den sie in ihren Aufzeichnungen einfach nur „Herr S.“ nennt, und jenem 30. November 1943, an dem sie nach einer Mitteilung des Roten Kreuzes im Vernichtungslager Auschwitz starb.
Auch wenn es Etty weder an Sensibilität noch an Intelligenz mangelte, so deutete doch erst einmal nichts auf die gewaltige, nachhaltige Veränderung hin, die sie erfahren hat. Sie selbst schrieb: „Bei vielen Problemen des Lebens mache ich einen sehr überlegenen Eindruck, und dennoch: Ganz tief in mir steckt ein geballter Kloß, irgendetwas hält mich fest im Griff, sodass ich manchmal trotz allen klaren Denkens nur ein ängstlicher armer Schlucker bin“ (DDH 13). Dies ist der Ausgangspunkt; hier beginnen ihre Tagebuchnotizen. Etty ist damals 27 Jahre alt.
Mal wurde sie „Don Quichotte im Unterrock“ genannt (von ihrem Vater!), mal mit einer „russischen Carmen“ verglichen (von einem Schweizer auf der Durchreise); auch als „junge, wilde Kirghisin“ hat man sie bezeichnet. Die lebendige, begabte junge Frau war psychisch nicht sehr stabil und litt unter häufig wiederkehrenden depressiven Phasen. An Beziehungen fehlte es ihr keineswegs, doch sie lebte diese sehr chaotisch und hatte so manche Liaison. Das Verhältnis zu ihren Eltern war reichlich stürmisch … Diese Unordnung, in der sich die eine oder der andere ein wenig wiederfinden mag (bei wem wäre schon alles „ruhig und geordnet“?), lässt an die erste Seite der Bibel denken, an den ersten Schöpfungsbericht: Gottes Pläne nehmen Gestalt an auf dem Hintergrund eines großen Chaos, biblisch „Tohuwabohu“ – ein Wort übrigens, das in viele Sprachen Eingang gefunden hat … Ein regelrechtes Tohuwabohu ist die Ausgangsbasis für Gottes schöpferisches Wirken – bis heute. Chaotisch präsentiert sich unsere Welt, chaotisch sind manche Aspekte der Kultur, in die wir eingetaucht sind, chaotisch ist oft genug auch unsere eigene Lebensgeschichte, und genau dies kann zum Ausgangspunkt für Gottes Wirken hier und heute werden.
In der Schöpfungsgeschichte heißt es, Gott habe ein Werk der Trennung vollbracht, der Scheidung von Licht und Finsternis. Arbeitet er nicht ähnlich jene Persönlichkeit heraus, die ein jeder Mensch werden soll? Schon die Geburt ist eine erste Trennung von der Mutter, und dann beginnt ein lebenslanger Prozess, in dem allmählich die eigene Persönlichkeit an Kontur gewinnt. Aus Chaos und Schlamm holt der Schöpfergott uns heraus und erweckt uns – nicht ohne unsere Mitwirkung – geduldig zum Leben, zu unserem Leben.
Etty öffnet sich mit all ihrem Chaos einem gewissen Julius Spier. „Da saß ich nun bei ihm“: Es ist die erste Begegnung mit diesem Autodidakten der Psychochirologie, der bei Carl Gustav Jung psychotherapeutisch ausgebildet worden war. Er war ein Vertreter der „Handlesekunst“ (Chirologie); in den Handlinien sah er so etwas wie ein zweites Gesicht eines Menschen. Spier wollte seinen Klienten helfen, wieder in Einklang mit sich selbst zu kommen. In seiner deutschen Heimat hatte er sich einen gewissen Namen als Therapeut erworben; als Jude war er vor den Nazis nach Amsterdam geflohen. Die Begegnung mit diesem inzwischen 55-jährigen Therapeuten war für Etty nicht „irgendeine“ der zahlreichen Bekanntschaften in ihrem Leben. Es war für sie „die“ Begegnung, ein bahnbrechendes Ereignis; die Entwicklung ihrer Verbindung mit Spier hat ihren weiteren Weg und ihre schriftliche Hinterlassenschaft maßgeblich bestimmt.
Sie selbst hat ihn einmal treffend als „Geburtshelfer ihrer Seele“ bezeichnet. Durch die Beziehung zu ihm fand sie eine neue Freiheit – und in dieser neu gewonnenen Freiheit konnte sie sich auch ihrer Quelle öffnen: jenem geheimnisvollen Gott, dessen Nähe sie immer mehr spürte. Gewiss, ihre Beziehung mit Spier war – wie alles Menschliche, ja selbst die schönsten Dinge machen da keine Ausnahme – nicht frei von Unklarheiten, ja auch gewissen Irrungen. Aus einem therapeutischen Verhältnis wurde sehr rasch eine affektive, leidenschaftliche Beziehung, die auch Momente von Eifersucht kennt. Aber zu keinem Zeitpunkt erschöpft sich ihre Beziehung in ihren auch vorhandenen negativen Aspekten. Als Spier unerwartet schnell starb, war das keineswegs das Ende ihrer Verbindung. Sein Tod bestärkte Etty vielmehr in dem, was zu leben sie schon begonnen hatte: ein Erwachen, ein Kommen zu sich selbst, zu den anderen und zu Gott – und dies alles in einer einzigen Bewegung, die sich nicht auseinanderdividieren lässt.
Schon bei der ersten Begegnung mit Spier fand Etty innerlich ein wenig Frieden und Ordnung. Für sie ist es etwas „Magisches“, was da passiert. Vertrauensvoll lässt sie sich darauf ein, will aber zur Akteurin dieser unerwartet beginnenden Wandlung werden: „Es wird sicher bald auch in der Psyche greifen und zu einem bewussten Akt werden.“
Beziehungen zu anderen Menschen können wie eine geheimnisvolle Alchimie wirken. Etty hatte geschrieben: „Ich scheine tüchtig zu sein und mache alles allein, aber ich würde mich so schrecklich gern ausliefern.“
Sich selbst im Griff haben und gleichzeitig die Sehnsucht verspüren, sich auszuliefern – wie passt das zusammen? Wie soll man diesen „zweieinen“ Wunsch, der so widersprüchlich scheint, realisieren? Wie soll man beides leben, ohne wie ein Pendel hin und her zu schwanken, ohne von einem Extrem ins andere zu fallen, ohne von den Gefühlsschwankungen eines unsteten Herzens mal hierhin, mal dorthin getrieben zu werden?
Wenn Etty sich nur ausgeliefert hätte, wenn sie sich ausschließlich Spier und seinem Einfluss auf ihre Persönlichkeit überlassen hätte, so hätte sie sich in der Beziehung mit ihm ihrer selbst entfremdet. Nun hat Etty aber weder ihre Freiheit noch diese Beziehung jemals geopfert. Sie ist in dieser Beziehung als Persönlichkeit gewachsen. Mehr noch: Sie merkt, wie sie mit Spiers Hilfe einen Weg beschreitet, auf dem sie sich jemandem zu öffnen und auszuliefern beginnt, den sie allmählich „Gott“ zu nennen wagt. Die Schönheit ihrer Verbindung mit Spier in aller Härte des Alltags hängt mit diesem inneren Weg eng zusammen.
ZUR REFLEXION
Ihr Unbehagen angesichts ihres inneren Chaos hat bei Etty Hillesum einen Prozess in Gang gebracht. Das kann ein Anstoß sein, einmal uns selbst zu fragen, womit wir unzufrieden sind, was uns unruhig macht, ob es auch in unserem Leben so etwas wie ein Tohuwabohu gibt.
Kann ich meine Fehler und Schwachpunkte, mein Chaos, meine Schwankungen annehmen als Einladung, diese Punkte anzugehen und an mir zu arbeiten? Mein inneres Durcheinander und meine Blockaden können mich bedrücken, sie können mir aber auch ein Anstoß sein, mich aufzumachen und etwas zu tun. Kann ich mich darauf einlassen? Stelle ich eventuell fest, dass ich jemand suchen sollte, der mich auf diesem Weg begleitet?
Ja zu mir sagen in all meiner Widersprüchlichkeit und angesichts der Feststellung, dass widersprüchliche Kräfte in mir am Werk sind, das verlangt Mut. Etty hat sich ihrer eigenen Befindlichkeit gestellt. Ihr Zeugnis weckt Zuversicht: Wer sich auf einen solchen Weg macht, bleibt nicht allein.
II – Eine stille Stunde
„Ich glaube, dass ich das tun sollte: morgens vor Beginn der Arbeit eine halbe Stunde lang ‚mich nach innen wenden‘, horchen nach dem, was in mir ist. ‚Sich versenken.‘ Man kann es auch als Meditieren bezeichnen. Aber vor dem Wort graut es mir noch ein bisschen. Aber warum eigentlich nicht? Eine halbe Stunde mit mir selbst allein. Es genügt nicht, morgens im Badezimmer nur Arme, Beine und alle andern Muskeln zu bewegen. Der Mensch besteht aus Körper und Geist. Und eine halbe Stunde Gymnastik und eine halbe Stunde ‚Meditation‘ können zusammen ein solides Fundament für die Konzentriertheit eines ganzen Tages bilden. Nur ist das nicht so einfach, so eine ‚stille Stunde‘. Das will gelernt sein“ (VB 35, DDH 35).