Doch, es gibt eine andere Wirklichkeit. Pierre Ferrière

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Doch, es gibt eine andere Wirklichkeit - Pierre Ferrière

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klare Prioritäten: „Morgens vor Beginn der Arbeit eine halbe Stunde lang ‚mich nach innen wenden‘, horchen nach dem, was in mir ist. ‚Sich versenken.‘ Man kann es auch als Meditieren bezeichnen.“

      „Meditieren“, das Wort klingt in ihren Ohren noch fremd. Aber sie ist fest entschlossen, es zu versuchen, sich nach innen zu wenden, in sich selbst hineinzuhorchen.

      Doch was bedeutet eigentlich dieses „Selbst“? Wie soll man „zu sich selbst“ kommen? Etty blendet keine Dimension ihres Wesens aus: weder den Körper noch das Herz und das, was sie bewegt. Sie wendet sich dem Dschungel psychischer Regungen zu, in dem man sich so oft verliert und der im gängigen Sprachgebrauch mit so vieldeutigen Begriffen wie „Seele“ oder „Geist“ bezeichnet wird.

      „Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar und bewahre euren Geist, eure Seele und euren Leib unversehrt, damit ihr ohne Tadel seid, wenn Jesus Christus, unser Herr kommt“ (1 Thess 5,23), schrieb der Apostel Paulus im Jahr 51 n. Chr. Ausdrücklich erwähnt er Geist, Seele und Leib: eine Einladung, keine Dimension unseres Wesens auszulassen!

      Wie hätte Etty auch ihren „Körper“ vergessen können? Er macht sich immer wieder präsent. Etty stellt fest: „Früher dachte ich, die körperlichen Probleme wie Kopfweh, Magenschmerzen, rheumatische Schmerzen wären eine rein physische Angelegenheit. Heute muss ich feststellen, dass sie nicht zuletzt psychisch bedingt sind. Körper und Seele sind bei mir ganz eng verbunden. Wenn bei mir psychisch oder spirituell etwas nicht stimmt, wirkt sich das ebenso auch physisch aus“ (NG 128).

      Sie merkt allmählich, dass ihre Probleme nicht nur physische Ursachen haben: Vieles ist psychosomatischer Natur. Um der engen Verwobenheit von Leib und Seele Rechnung zu tragen, macht sie jeden Morgen im Bad erst einmal eine halbe Stunde Gymnastik, bevor sie dann eine weitere halbe Stunde meditiert. Es ist ihre „stille Stunde“, die, so schreibt sie, „gelernt sein will“.

      Ettys „Geist“ und „Seele“ sind von vielerlei Gefühlen beherrscht; sie ringt damit und droht zu ertrinken in diesem mächtigen Strudel von Affekten, der auch die Gedanken hinunterziehen kann. Im Einzelnen spricht Etty von Träumereien, von großartigen Gedanken, von blitzschnellen Intuitionen, von Orgien inneren Lebens … Es ist wie ein seelisch-geistiger Mahlstrom, ein gefährlicher Gezeitenstrom voller Strudel, der sie mitreißt und aller Orientierung beraubt, ein Ozean, der sie jederzeit verschlingen könnte.

      So nimmt sie sich jeden Morgen eine Stunde Zeit für einen „inneren Großputz“. Langsam, aber sicher gelingt es ihr, die „verstopfte Seele“ zu befreien und wieder Klarheit zu gewinnen. Erst müssen sich die Dinge absetzen, die ihre Seele trüben – wie beim Dekantieren eines guten alten Bordeaux …

      Auch wir werden manches Mal von einem Gefühlswirrwarr überrollt; gestresst, wie wir häufig sind, merken wir gar nicht, wie es uns den Halt verlieren lässt. Oder denken wir an die überbordenden Informationen, die geradezu über uns hereinbrechen. Mehr denn je verspüren wir heute das vitale Bedürfnis, auf Distanz zu all diesen Eindrücken und Emotionen zu gehen, Abstand zu gewinnen, loszulassen und zu entspannen.

      Etty schafft es dank ihrer „Aufräumaktion“ mit der Zeit, den Schutt wegzuräumen, der sie innerlich blockiert und ihr „die Seele verstopft“. Sie hat dabei den Eindruck, am Rand „eines tiefen Brunnens“ zu stehen, für den sie den Namen „Gott“ wählt (VB 55).

      „Nur ist das nicht so einfach, so eine ‚stille Stunde‘. Das will gelernt sein … Der Zweck des Meditierens sollte sein: dass man sich innerlich zu einer großen Ebene ausweitet, ohne all das heimtückische Gestrüpp, das die Aussicht behindert. Dass etwas von ‚Gott‘ in einem erwächst, wie auch in der Neunten von Beethoven etwas von ‚Gott‘ enthalten ist. Dass auch eine Art ‚Liebe‘ entsteht, keine Luxus-Liebe von einer halben Stunde, in der es sich voller Stolz auf die eigenen erhabenen Gefühle herrlich schwelgen lässt, sondern eine Liebe, mit der man in der kleinen alltäglichen Praxis etwas anfangen kann“ (VB 36, DDH 35f).

      Hätte Etty sich nicht einfach in die Bibel hineinvertiefen können, die sie durch Spier kennen- und schätzen gelernt hatte? Mit feinem Gespür nimmt sie wahr, dass dieser Augenblick für sie noch nicht gekommen ist; sie wäre Gefahr gelaufen, die Bibellektüre noch zu „verkopft“ anzugehen.

      Sie hat sich in diesem langsamen Prozess der inneren Erneuerung weder durch hin und wieder aufkommende Lustlosigkeit und Verdrossenheit noch durch körperliche Schmerzen aufhalten lassen. Durch alle nie ganz überwundenen Schwierigkeiten und Rückschläge hindurch hat Gott sein Werk in ihr vollendet.

      ZUR REFLEXION

      Sich nach innen zu wenden, das war für Etty Hillesum ein bewusster „Entschluss“ – mit allem, was dazugehört: geistige Präsenz, das Setzen von Prioritäten, Initiative, Entschlossenheit, Energie, guten Willen und das Einbeziehen des Körpers …

      Wie sieht das bei mir aus? Habe ich schon einmal einen solchen Entschluss, eine grundlegende Entscheidung getroffen? Habe ich Wege gefunden, sie im Lebensalltag umzusetzen und durchzutragen?

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