Auf den zweiten Blick (E-Book). Andrea Müller

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Auf den zweiten Blick (E-Book) - Andrea Müller

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Vielfalt?» war unsere Ausgangsfrage. Dabei haben wir uns voneinander inspirieren und irritieren lassen, gestaunt über die Vielfalt an Situationen und die damit verbundenen kreativen Wege, auch gerungen um angemessene Antworten auf offene Fragen.

      Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser Gespräche. Es enthält sowohl Beiträge aus der «professional community» mit einer Vielzahl an Erfahrungswerten und Anregungen aus der Unterrichtspraxis wie auch Beiträge aus der «scientific community» mit Erkenntnissen aus der Bildungsforschung und entsprechenden Hintergrundinformationen.

      Angesichts der Fülle an Themen mussten wir uns beschränken. Schulentwicklungsfragen und Religionsbezüge konnten wir nur streifen; sie würden einen eigenen Band füllen. Zudem richten wir unseren Fokus auf den 1. und 2. Zyklus. An vielen Stellen lassen wir unterschiedliche Menschen mit ihren Bildungserfahrungen zu Wort kommen. Wir haben Anekdoten und Zitate von ihnen eingefügt und ihre Namen dabei meistens durch Pseudonyme ersetzt.

      Bedanken möchten wir uns bei all unseren Kolleginnen und Kollegen, die uns bei der Entwicklung dieses Buchs mit ihrer Erfahrung und ihrem Fachwissen unterstützt haben.

      Zum Geleit: Wie lernen Lehrpersonen in einem professionellen Umgang mit Vielfalt?

      Zur Geschichte des pädagogischen Umgangs mit Migration und Vielfalt

      Migration und Vielfalt sind keine neuen Phänomene im Bildungswesen der Schweiz. Seit den 1960er-Jahren ist die Zahl der Kinder von Eingewanderten in den Schulen stetig gestiegen. Ihr Anteil in Schweizer Schulen gehört zu den höchsten in den Ländern Europas und Nordamerikas. Das Bildungswesen in der Schweiz musste darauf seit Langem reagieren. Ab den 1970er-Jahren wurden unter dem Titel einer «Ausländerpädagogik» «Probleme der Gastarbeiterkinder» behandelt, indem diese durch Deutschunterricht für Fremdsprachige, Fremdsprachigenklassen und Aufgabenhilfen besondere Unterstützung erhielten. Das entsprach einer Perspektive, die schulische Defizite der Kinder reduzieren wollte. Ab den 1980er-Jahren folgte eine «interkulturelle Pädagogik», die das interkulturelle Lernen, den bereichernden Austausch und die Toleranz betonte. Dieser Ansatz wurde umgehend auch kritisiert. Kulturalistische Zuschreibungen würden die Wahrnehmung der Menschen verzerren. Die mit Migration verknüpften sozialen Ungleichheiten würden in naiver Weise verdeckt. Seit etwa dem Jahr 2000 wird nun eine Pädagogik der Diversität propagiert und verfolgt. Sie nimmt die Normalität der Vielfalt in den Blick – in ihren sozialen, sprachlichen, kulturellen, Gender- und individuellen Aspekten.

      Mindestens dreimal in den letzten fünfzig Jahren wurde also ein grosser Paradigmenwechsel gefordert. Doch das Bildungssystem und die Bildungspraxis machen keine raschen Paradigmasprünge. Sie entwickeln sich langsam mit pragmatischen kleinen Schritten und Verbesserungen. Sie entwickeln sich einerseits unter dem Druck der sich ändernden demografischen Realitäten, andererseits unter dem Einfluss von ideologischen, politischen, medialen und fachlichen Diskursen, die immer kontrovers und widersprüchlich sind.

      So bleiben pädagogische Diskurse aus den verschiedenen Phasen bis heute in den Schulen wirksam. Doch Ansätze und Elemente einer Diversitätspädagogik bekommen mehr Aufmerksamkeit und erhöhen ihren Einfluss auf die Bildungspolitik und -praxis. Das vorliegende Buch ist ein sehr gutes Instrument, um eine Pädagogik der Diversität in den Schulen weiter zu diskutieren und zu entwickeln. Das Buch hält sich dabei nicht mit den langen Vorgeschichten auf, es geht direkt auf die heutige Realität von Vielfalt und auf ihre Normalität ein. Und das ist gut so!

      Dieses Buch ist ein Lernbuch für Lehrpersonen. Die Autorinnen und der Autor legen darin dar, wie und was sie selbst im pädagogischen Umgang mit Migration und Vielfalt gelernt haben. Sie zeichnen zunächst einen theoretischen Rahmen. Damit begründen sie die leitenden Prinzipien einer Schulkultur der Anerkennung, die dazu gehörigen Haltungen und die Wege zur Professionalisierung in diesem Thema. Vor allem aber sammeln und beschreiben sie konkrete Situationen – «Fälle» genannt – aus dem Schulalltag. Es sind Situationen, die regelmässig in heutigen Schweizer Schulklassen anzutreffen sind. Es sind Situationen, in denen Herausforderungen, Irritationen und Unsicherheiten auftreten und in denen sich Lehrpersonen nicht sicher sind, wie sie am besten handeln sollen. Die konkreten Situationen bilden also den Ausgangspunkt. Hier kommt ein entscheidendes Moment professionellen Handelns ins Spiel: das Innehalten, der «zweite Blick», die Reflexion und das Denken in unterschiedlichen Perspektiven. Dabei werden vielfältige Möglichkeiten des pädagogischen Handelns in einer Situation bedacht. Die so entstehenden Anregungen sind bei Weitem kreativer und origineller, als was die überlieferte schulische Alltagsroutine auf einen ersten Blick nahelegen würde. Die Reflexion, auch wenn sie oft nur kurz sein kann, geht dem pädagogischen Handeln voraus. Und die Reflexion folgt dem Handeln beim Zurückblicken und der Lernzirkel kann sich von Neuem drehen.

      Auf diese Weise wird im vorliegenden Buch forschendes Lernen betrieben. Dies wird modellhaft dargestellt, und es wird den lesenden Lehrpersonen zur Nachahmung empfohlen. Es wird vorgezeigt, wie sich die Lehrperson immer auch als Lernende verhalten kann. So kann sie zum Modell für das Lernen der Schülerinnen und Schüler werden.

      Modellhaft zeigen die Autorinnen und der Autor zudem, dass das gemeinsame Lernen der Lehrpersonen produktiver ist als nur individuelles Lernen. Das Buch haben Lehrpersonen und Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus der Pädagogischen Hochschule gemeinsam geschaffen. Die Fallbeispiele haben sie gemeinsam diskutiert. Praxis und Wissenschaft tragen so Wissen zusammen, das sich ergänzt. Praxiswissen wird durch theoretisches Wissen untermauert oder auch hinterfragt. Die Praxis bringt aktuelle Herausforderungen aus dem heutigen Schulalltag und Ideen zum Umgang damit ein, die Theorie neue Ansätze der Analyse wie beispielsweise Theorien der Diversität, der Mehrsprachigkeit, der institutionellen Diskriminierung und der Rassismuskritik. So ist eine interessante Mischung aus Praxis und Theorie, aus Konkretem und Abstraktem entstanden, wobei die Ausrichtung auf das praktische Handeln immer als Hauptziel verfolgt wird.

      Das Buch eignet sich darum auch für gemeinsames Lernen von Lehrpersonen in schulinternen Weiterbildungen und für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen an pädagogischen Hochschulen.

      Wie lernen Lehrpersonen den Umgang mit Vielfalt? Ich kann von meinem eigenen Beispiel erzählen. In meiner anderthalbjährigen Ausbildung zum Primarlehrer in der Mitte der 1970er-Jahre gab es eine anderthalbstündige Veranstaltung zur Schulung der Emigrantenkinder, damals vor allem aus Italien. Der Schuldirektor des italienischen Konsulats warb für Verständnis für die Lage dieser Kinder. In der Deutschdidaktik lernten wir, dass die Schule auf einen elaborierten Sprachcode der Mittel- und Oberschicht eingestellt sei, nicht auf den restringierten Code der Arbeiterkinder. Diese würden dadurch in ihren Chancen auf Schulerfolg benachteiligt. In der Praxis als Lehrer in einem Stadtzürcher Arbeiter- und Migrantenquartier wurde schnell klar, dass das noch in höherem Ausmass auf die Kinder der eingewanderten Arbeiterfamilien zutraf. Die sozialen Realitäten dieser Milieus – von Eingewanderten aus Schweizer Bergkantonen und aus ärmeren Regionen Südeuropas – lernte ich mit den Schülern und Schülerinnen und ihren Eltern kennen: ihr Leben in beengten Wohnverhältnissen, mit viel Arbeit, Opferbereitschaft und dem grossen Traum, dass es die Kinder einmal besser haben. Ein paar Lehrpersonen organsierten sich in Gruppen. Wir bereiteten einige Unterrichtseinheiten gemeinsam vor, beispielsweise auch zum Thema Einwanderung. Wir trafen uns an Versammlungen mit Vertretern und Vertreterinnen italienischer, spanischer und griechischer Migrantenorganisationen. Dort erfuhren wir, was sie interessierte und was sie forderten: Mehr ihrer Kinder sollten in Gymnasien kommen, weniger in Sonderklassen; der Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur sollte in die öffentlichen Schulen integriert werden; die eingewanderten

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