Auf den zweiten Blick (E-Book). Andrea Müller

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Auf den zweiten Blick (E-Book) - Andrea Müller

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und Vorstellungen, die wir uns im Verlauf unserer Geschichte aufgebaut haben und die uns ein Stück Orientierung geben, wenn wir einer neuen Situation begegnen und uns unsicher fühlen. Manchmal sind diese Bilder allerdings gar nicht so hilfreich, denn manchmal meinen wir so viel über andere zu wissen, dass für unser Gegenüber kaum Raum bleibt, sich selbst zu artikulieren und auf diese Weise wirklich kennengelernt und verstanden zu werden.

      Michael Ende (1960) hat dieses Phänomen mit seiner Figur des «Riesen Tur Tur» feinfühlig illustriert: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer reisen durch eine Wüste, und auf einmal taucht am Horizont eine riesenhafte Gestalt auf. Jim Knopf geht davon aus, dass etwas so Riesenhaftes fremd und bedrohlich sein müsse und möchte sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Aber dann halten sie doch noch einen Moment inne, lauschen und wagen einige Schritte in Richtung des Riesen, worauf auch der Riese beginnt, sich in ihre Richtung zu bewegen. Sie gehen sich Schritt um Schritt entgegen, und nun geschieht das Erstaunliche, denn mit jedem Schritt wird der Riese kleiner und kleiner und verliert damit auch seine vermeintliche Bedrohlichkeit, bis sie sich schliesslich in gleicher Grösse gegenüberstehen und sich in ganz anderer Weise begegnen und kennenlernen können. Das «Fremde» und «Ferne» erscheint uns oft grösser und bedrohlicher, als es in Wirklichkeit ist.

      Wer kennt sie nicht, diese Momente, in denen man allerlei über andere denkt und vermutet, was sich dann als Fehlinterpretation herausstellt. Vermeintliches Wissen und vorschnelle Bewertungen können uns den Blick versperren und das eigentliche Sehen, Zuhören und Kennenlernen verhindern (vgl. auch die witzige Episode im Kurzfilm «The Cookie Thief» auf der DVD «Respekt statt Rassismus», Hinweis dazu in Kapitel 3.2 unter «Filme»).

      «Wenn die Studierenden in der Vorlesung ihren Kaffee ausgeleert haben, dann haben sie mich immer nach einem Putzlappen gefragt. Aber eigentlich war ich als Doktorand an der Uni.» (Patrick Ngowi, aufgewachsen in Tansania. Und ja: Er hat eine dunkle Hautfarbe)

      «Mein Mann wird häufig gefragt, warum er mich so schlecht behandle. Nur weil ich ein Kopftuch trage, denken alle, ich werde von meinem Mann unterdrückt. Und manche reden ganz laut und langsam und auf Hochdeutsch mit mir, obwohl sie ja hören, dass ich ganz normal Schweizerdeutsch rede und auch nicht schwerhörig bin. Ich weiss nicht, was sie sich denken.» (Salima Hamoudi)

      «Die Leute haben immer gemeint, ich könne kaum lesen und schreiben, weil ich aus Kroatien komme. Dabei haben wir in der Schule Kant, Pestalozzi und Schiller gelesen. Aber das konnte sich hier niemand vorstellen. Die Leute meinen, wenn du vom Balkan kommst, dann bist du ungebildet.» (Ivana Marić Kovačević, als Jugendliche aus Kroatien in die Schweiz geflüchtet)

      «Nur weil ich einen griechischen Namen habe, werde ich dauernd gefragt, warum ich so gut Deutsch könne. Das ist schon seltsam, denn ich bin ja in der Schweiz aufgewachsen.» (Alexis Fotakis)

      Es lässt sich nicht ganz vermeiden, dass wir immer wieder falsch liegen mit unseren Ideen und Urteilen über andere. Allerdings ist mit dem Erkennen dieser Tendenz bereits sehr viel gewonnen. Dann wissen wir um unser Nichtwissen und lassen dem Gegenüber Raum, sodass er oder sie gehört und kennengelernt werden kann. Die eigenen Konzepte lassen sich nicht einfach ausschalten, aber sie lassen sich relativieren und hinterfragen. «Es könnte auch anders sein» ist ein Leitspruch dafür. Diese Haltung verzichtet auf schnelle Bewertungen und lässt die Tür offen für das Unerwartete.

      Für viele mag das auch eine Entlastung sein, denn es bedeutet im Umkehrschluss, dass es auch nicht nötig ist, alles zu wissen. Wir müssen nicht alle kulturellen Ausprägungen im Detail kennen und über die diversen Lebensweisen genauestens informiert sein. Solches Wissen ist zwar spannend, aber es ist erst dann wirklich hilfreich, wenn es mit dem Wissen um das eigene Nichtwissen ergänzt wird. Auf diese Weise kann die Gefahr gemindert werden, das Gegenüber mit vermeintlichem Wissen zu vereinnahmen, und es kann ermöglicht werden, trotz aller Konzepte und Vorstellungen wirklich zuzuhören, wahrzunehmen und allenfalls nachzufragen (vgl. auch Mecheril, 2008; Kalpaka & Mecheril, 2010, S. 97).

      «Zuhören ist sehr viel schwieriger, als gemeinhin angenommen wird; wirkliches Zuhören bedeutet, uns selbst völlig loszulassen, alle Informationen, Konzepte, Vorstellungen und Vorurteile fallenzulassen, mit denen unsere Köpfe so vollgestopft sind.» (Sogyal Rinpoche)

      «Eines meiner Kindergartenkinder erzählt mir eines Tages mit Stolz, dass sie nun in die Koranschule gehe und dabei ein Kopftuch trage, sie lerne jetzt nämlich den Koran. Ich ertappe mich dabei, dass ich auf das Stichwort ‹Koranschule› irritiert reagiere und damit viele Befürchtungen für die Entwicklung des Mädchens verbinde. Um diesen Gedanken und Gefühlen – die von meinen eigenen Vorstellungen und Bildern geprägt sind – nicht zu viel Raum zu geben, frage ich beim Mädchen interessiert nach, was sie in der Koranschule alles lerne. Dabei entstand ein schönes Gespräch, in dem ich einigen Einblick in eine Welt erhielt, die ich eigentlich kaum kenne.» (Zitat aus der Projektgruppe)

      «Nachdem ich viele Gespräche mit Eltern aus Serbien als schwierig erlebt hatte, wollte ich mehr über die Menschen aus dieser Gegend erfahren. Ich organisierte deshalb, dass ich meine Intensivweiterbildung in Serbien und Kroatien verbringen konnte. Diese Monate voller neuer Eindrücke und Begegnungen bewirkten, dass ich die Gespräche seither viel gelassener angehen kann.» (Zitat aus der Projektgruppe)

      Auf der Basis einer solchen Offenheit ist es ausserdem hilfreich, andere Perspektiven in Betracht zu ziehen. Es kann verblüffend sein, wie anders eine Situation aussieht, wenn sie aus der Sicht des Gegenübers betrachtet wird. Allerdings ist es oft nicht ganz einfach, sich Sichtweisen vorzustellen, die von der eigenen abweichen, und deshalb besonders hilfreich, sich darüber mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Und am hilfreichsten ist natürlich das direkte Nachfragen, sofern das möglich und passend ist.

      Kölsch-Bunzen, Morys und Knoblauch (2015) erzählen dazu eine erhellende Geschichte: Eine Mutter holt ihren Sohn jeweils abends von einer Kindertagesstätte ab. Die Fachkraft beobachtet, dass der Junge sich dabei auf die Garderobenbank setzt und seiner Mutter die Schuhe zum Zubinden entgegenstreckt, woraufhin sich die Mutter vor ihn auf den Boden kniet und ihm die Schuhe bindet. Die Fachkraft schüttelt innerlich den Kopf, da sie weiss, dass der Junge auch selbst in der Lage ist, seine Schuhe zu binden, und es nicht richtig findet, dass er sich von seiner Mutter bedienen lässt. Spontan vermutet sie darin ein männlich-dominantes Verhalten, das von der Mutter auch noch gefördert wird. Die Fachkraft sucht daraufhin das Teamgespräch, und dabei wird ihr bewusst, wie viele Annahmen in ihre Vermutungen eingeflossen sind, über die sie im Grunde wenig weiss: Handelt es sich um ein Verhalten, das immer auftritt oder nur in bestimmten Situationen? Handelt es sich dabei um ein «Bedienen» oder möchte die Mutter ihre Fürsorge ausdrücken? Möchte sich der Sohn bedienen lassen, oder möchte er seine Verbundenheit mit der Mutter zeigen? Spielt es zur Erklärung dieser Situation eine Rolle, dass die Mutter in der Türkei aufgewachsen ist? Im Verlauf dieses kollegialen Austauschs wird bei der Fachkraft aus dem innerlichen Kopfschütteln allmählich Neugier und Offenheit, sodass sie beschliesst, bei nächster Gelegenheit das Gespräch mit der Mutter zu suchen. Die Mutter erzählt ihr, dass sie einer Vollzeitarbeit nachgeht, ihren Sohn deshalb abends erst spät abholen kann und ihm dabei von Anfang an zeigen möchte, dass sie ihn liebt und gern für ihn sorgt. Gleichzeitig sei ihr die Selbstständigkeit ihres Sohnes wichtig, er habe deshalb bereits gelernt, die Schuhe selbst zu binden. Das Verhalten ihres Sohns deutet sie so, dass er sich in der abendlichen Abholsituation gerne auf das «Begrüssungsspiel» einlasse (ebd., S. 35).

      Das Verhalten der Fachkraft ist dabei beispielhaft: Sie nimmt ihre eigene Irritation wahr, tauscht sich mit ihrem Team darüber aus, reflektiert ihre eingeflossenen Annahmen, wandelt sie in Fragen um und öffnet sich schliesslich dafür, der Erklärung der Mutter zuzuhören und dieser

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