Auf den zweiten Blick (E-Book). Andrea Müller
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Differenzieren
Eine weitere nützliche Strategie ist das bewusste Ausdifferenzieren der Wahrnehmung. Auch dazu eine kleine Geschichte: Eine Lehrperson hat vor, mit ihren Schülerinnen und Schülern aus einer Klasse im 2. Zyklus ein Theater einzuüben und aufzuführen. In diesem Theaterstück gibt es eine Rolle, bei der ein Kind mit schwarzen Haaren davon erzählt, wie es mit seinen Eltern und seinen Brüdern aus der Türkei in die Schweiz migriert ist. Als die Klasse von dieser Rolle erfährt, zeigen einige gleich auf Oeznur und schlagen vor, dass sie die Rolle spielen solle, da sie die einzige mit schwarzen Haaren und ausserdem Türkin sei. Oeznur reagiert auf diesen Vorschlag mit grosser Zurückhaltung. Nach der Schule tauscht sich die Lehrperson mit ihrer Stellenpartnerin aus. Gemeinsam überlegen sie, inwiefern diese Idee, Oeznur als «Türkin» zu bezeichnen, wirklich angemessen ist. Sie denken, dass sich Oeznur nicht einfach nur als «Türkin» sieht. Soweit sie wissen, hat sie zwar emotionale Bezüge zu ihrer Verwandtschaft in der Türkei, gleichzeitig aber ebenso bedeutsame Zugehörigkeitsgefühle innerhalb der Schweiz. Ausserdem ist sie in den letzten Jahren zu einer leidenschaftlichen Pfadfinderin geworden und hat dort bestimmt eine wichtige Bezugsgruppe. Zeitweise steht auch ihr Heranreifen zu einer Frau im Mittelpunkt, und sie identifiziert sich vor allem mit ihren Freundinnen. Im Vergleich zu ihren Freundinnen hat Oeznur aber weniger Handlungsspielraum, was die finanziellen Möglichkeiten betrifft, denn es gab Zeiten der Arbeitslosigkeit in der Familie, und was ihre Eltern verdienen konnten, haben sie zum Teil an ihre Verwandtschaft in der Türkei gesendet. Oeznur träumt davon, einmal genügend zu verdienen, London zu besuchen und dort vielleicht auch einmal zu arbeiten. Oder in Istanbul. Etwa einmal im Jahr reist die Familie auf Verwandtschaftsbesuch in die Türkei, und Oeznur hat wohl besonders gute Beziehungen zu ihren Grosseltern mütterlicherseits. Insgesamt spielen die Türkeibezüge vermutlich eine Rolle in Oeznurs Leben, sind aber bestimmt bei Weitem nicht so dominant, wie ihr oft zugeschrieben wird, wenn sie «Türkin» genannt wird. Eine der Lehrpersonen erinnert sich zudem daran, dass Oeznur einmal enttäuscht gesagt habe: In der Türkei bin ich immer einfach «die Schweizerin» und in der Schweiz bin ich immer einfach «die Türkin». Im Verlauf dieses Gesprächs wird den beiden Lehrpersonen klar, dass die Rolle der «Türkin» für Oeznur nicht automatisch attraktiv, vielleicht sogar mit einem bitteren Beigeschmack verbunden ist, weil sie auf Türkeibezüge reduziert wird und diese im Theater dann auch noch zur Schau stellen soll. Die beiden Lehrpersonen beschliessen deshalb, die Rollenverteilung noch einmal zu überdenken und dabei Oeznur stärker zu Wort kommen zu lassen. Und die Frage der schwarzen Haare liesse sich ja auch noch mit Theaterrequisiten wie Perücken und Hüten lösen.
Unsere gesellschaftlich gängigen Stereotypen leiten uns häufig in allzu vereinfachte Vorstellungen nationaler, ethnischer oder kultureller Zugehörigkeit und Prägung. Das Ausdifferenzieren ermöglicht dann ein Bild, das gewissermassen in der Anzahl seiner Pixel zunimmt, dadurch facettenreicher wird und schliesslich dazu verhilft, eine Situation besser einschätzen zu können.
Sich selbst erkennen
Neben dem offenen und differenzierten Blick auf das Gegenüber und dem Versuch eines Perspektivenwechsels ist es auch hilfreich, den Blick zurückzulenken auf sich selbst. Wir sind Teil sozialer Strukturen, in denen manche mehr, andere weniger Handlungsspielraum haben und deshalb auch Begrenzungen und Einschränkungen erleben. Für diejenigen, die selbst solche Begrenzungserfahrungen gemacht haben, ist diese Form der Selbsterkenntnis leichter, während sie für diejenigen, die über weniger solcher Erfahrungen verfügen, oft eine grosse Herausforderung darstellt.
Wir können uns aber vor Augen führen, was für Mehrheitsangehörige der Gesellschaft im Grunde «normal», hingegen für andere – etwa für manche Eltern – durchaus nicht selbstverständlich ist (vgl. auch McIntosh, 1989):
–Wenn ich rechtliche oder medizinische Hilfe benötige, kann ich recht sicher sein, dass meine Herkunft nicht gegen mich arbeitet.
–Ich habe keine Schwierigkeiten, ein Wohnviertel zu finden, in dem ich von der Nachbarschaft neutral behandelt oder fraglos respektiert werde.
–Ich kann gekaufte Artikel, die einen Defekt haben, ins Geschäft zurückbringen und davon ausgehen, dass ich eine Rückerstattung dafür bekomme.
–Ich kann zu spät zu einer Verabredung kommen, fluchen oder Secondhandkleidung tragen, ohne dass mir das als Kulturdifferenz, schlechte Moral oder Armut ausgelegt wird.
–Ich kann Spass haben am Trommelspielen und werde nicht gleich mit klischierten Vorstellungen von Strohhüttenromantik oder Voodoo in Verbindung gebracht.
–Wenn ich an einem Elternabend etwas Kritisches anmerke, kann ich damit rechnen, dass meine Kritik gehört wird und ein gewisses Gewicht hat.
–Wenn ich kritisiert werde, dann hat das ziemlich sicher nichts mit meiner Herkunft zu tun.
–Ich kann von einem Elternabend nach Hause gehen und mich einigermassen eingebunden und «normal» fühlen anstatt fehl am Platz, exotisch, auf Abstand gehalten oder latent unerwünscht.
–Wenn es bei meinen Kindern schulische Schwierigkeiten gibt, ist es sehr wahrscheinlich, dass ich darauf einigen Einfluss nehmen kann.
–Ich kann mich mit Migrationsphänomenen auseinandersetzen, ohne dass mir dabei Eigennützigkeit unterstellt wird.
–Ich werde dort, wo ich wohne und mich zu Hause fühle, nie danach gefragt, woher ich komme.
Diese alltäglichen Selbstverständlichkeiten sind eine Folge gewachsener gesellschaftlicher Strukturen, in denen die Einflussmöglichkeiten ungleich verteilt sind und in denen inhärente Glaubenssätze wirksam sind, wie etwa: «Wir» sind die «Entwickelten», «demokratisch Denkenden», «Kultivierten», «Aufgeklärten» und «Gebildeten», während im Gegenzug eine Gruppe von «Anderen» konstruiert wird, denen kontrastierende und abwertende Attribute wie «unterentwickelt», «rückständig» oder «ungebildet» pauschal zugeschrieben werden. Häufig ist in diesem Zusammenhang von einem subtil wirksamen Alltagsrassismus die Rede (vgl. Eser Davolio, 2016, S. 41; Scharathow, 2015).
Als Lehrperson ist es nützlich, sich dieser Strukturen bewusst zu sein und eine Sensibilität dafür zu entwickeln. Gerade bei Migrationsthemen, die medial und öffentlich vorwiegend negativ diskutiert werden, braucht es bei Migrierten oftmals wenig, um sich ein weiteres Mal abgelehnt, missverstanden oder unerwünscht zu fühlen. Eine Primarlehrerin, die aus Kroatien in die Schweiz migriert ist und diese Strukturen aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt, rät dazu, sich diese Verhältnisse ab und zu vor Augen zu führen, um das Verhalten mancher Migrierter besser nachvollziehen zu können. Ein Oberstufenlehrer mit langjähriger Lehrerfahrung in einem Einwanderungsquartier erzählt, es habe ihm neben den Begegnungen auch geholfen, entsprechende Filme zu sehen und Bücher zu lesen, um diese sozialen Verhältnisse besser zu verstehen und sich in die Lebensumstände von Migrantinnen und Migranten besser einfühlen zu können. Zu diesem Zweck könnten folgende Bücher nützlich sein:
–Unter Weissen. Was es heisst, privilegiert zu sein (von Mohamed Amjahid, erschienen 2017 im Hanser Berlin Verlag)
–Witzige und unterhaltsame Erzählungen über das ernsthafte Thema, wie es ist, in einem Land zu leben, in dem man für viele anders aussieht als «normal» und in dem die Privilegierten nicht wissen, dass sie privilegiert sind.
–Fremde Federn. Geschichten zur Migration in der Schweiz (herausgegeben von Migros Kulturprozent, erschienen 2004 im schulverlag plus)
–Im Rahmen eines Wettbewerbs wurden Migrantinnen und Migranten eingeladen, eine persönliche Geschichte