Auf den zweiten Blick (E-Book). Andrea Müller
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Das Beispiel – und ich nehme an, dass es vielen Lehrpersonen ähnlich geht – zeigt, dass formalisierte Ausbildungen nur ein Teil des Lernens im Umgang mit Vielfalt sind. Dieser Teil ist an den pädagogischen Hochschulen heute um ein Vielfaches besser ausgebaut als früher. Doch entscheidend bleibt das Weiterlernen in der Praxis, mit und von Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern, beim Erkunden von sozialen und kulturellen Milieus, beim pädagogischen und bildungspolitischen Handeln, in der Reflexion des Handelns, in der dauernden beruflichen Professionalisierung, im Erweitern der Horizonte.
Ich wünsche den Lesenden, dass sie mit diesem Buch beim Weiterlernen viel Lernlust und Lerngewinn haben mögen.
Markus Truniger
Ehemaliger Leiter der Fachstelle für Interkulturelle Pädagogik in der Bildungsdirektion des Kantons Zürich
Einleitung
Vielfalt ist im Grunde das Normalste auf der Welt. Sie entsteht aus vielen, die als Einzelne einzigartig sind, die Träume und Sehnsüchte haben, Interessen und Talente, Geschichten und Verletzlichkeiten. Und alle haben ein Recht auf Bildung, auch auf Zugehörigkeit, Teilhabe und Anerkennung.
Das klingt selbstverständlicher als es oft erfahren wird. Insbesondere im Zusammenhang mit Migration entstehen häufig Unsicherheiten darüber, wie wir uns begegnen können, sodass sich alle respektiert und verstanden fühlen in dem, was sie ausmacht und was ihnen wichtig ist. Lehrpersonen navigieren durch viele Untiefen und suchen nach Wegen, um allen möglichst angemessen gerecht zu werden. In diesen Suchbewegungen sind sie gefragt und gefordert, mit ihren Überzeugungen, Haltungen und Kompetenzen.
Für manche stehen dabei die Anstrengungen im Vordergrund, auch die Erfahrung, dass es frustrierend sein kann, über Schwierigkeiten im Migrationskontext sprechen zu wollen, weil man latent riskiert, von anderen als rassistisch abgestempelt zu werden. Andere sehen in der Migration und in den Migrierten den Duft der weiten Welt, den Blick auf weitere Horizonte und das bunte Leben. Und schliesslich ist es für viele einfach zur Normalität geworden, dass die Gesellschaft und damit auch die Schule facettenreich und vielfältig ist, mit ihren schwierigen und ihren leichten Seiten.
Dieses Buch ist ihnen allen gewidmet. Wir möchten ermutigen und unterstützen, wo Herausforderungen entstehen; und bestätigen, wo Ansätze gelingen und ausgebaut werden können. Auch wollen wir zum kritischen Überdenken von Routinen anregen und zum Erweitern von Handlungsoptionen beitragen, indem wir Fälle aus dem Schulalltag diskutieren, sie mit Hintergrundinformationen durchleuchten, bewährte Ideen einbringen und dazu einladen, diese Ideen kreativ zu nutzen und sie im komplex strukturierten Schulalltag anzupassen und weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck haben wir zudem im letzten Kapitel eine Sammlung hilfreicher Literaturhinweise, Links und Angaben zu Unterrichtsmaterialien zusammengestellt.
Es ist nicht erforderlich, das Buch am Stück zu lesen, es kann auch einfach an denjenigen Stellen aufgeschlagen werden, die persönlich bedeutsam sind und zu denen Anknüpfungspunkte bestehen. Das Buch soll ein Alltagsbegleiter sein, der zu Rate gezogen werden kann, wo er gerade gebraucht wird und nützlich erscheint.
TEIL 1
ORIENTIERUNGSRAHMEN
1.1 Anerkennung für alle
Zunächst stellt sich die grundsätzliche Frage, wie das pädagogische Handeln im Migrationskontext verstanden werden kann und mit welchen Grundanliegen es verbunden ist. Im Anschluss daran möchten wir aufzeigen, welche Überlegungen helfen können, um diesen Anliegen immer besser gerecht zu werden.
Der Lehrplan 21 hält fest, dass die Schule am grundlegenden Wert der Chancengleichheit orientiert sein soll (D-EDK, 2016, S. 21) und dass allen Schülerinnen und Schülern ermöglicht werden soll, ihr Potenzial bestmöglich zu entfalten (D-EDK, 2016, S. 42). Wenn es also um Chancengleichheit und Potenzialentfaltung geht, wird die Frage der Anerkennung zu einer entscheidenden Grösse. Nur auf der Grundlage der Anerkennung gleicher Rechte können gleiche Bildungschancen gewährleistet werden, und die Anerkennung der einzelnen Personen bildet die Basis für jegliche Form individueller Entfaltung (Honneth, 2014 [1994]).
Anerkennung ist damit nicht nur zu einem «Schlüsselbegriff unserer Zeit» geworden (Fraser & Honneth, 2003), sondern stellt auch für den Bildungskontext einen Dreh- und Angelpunkt dar (Helsper et al., 2001), ganz besonders dann, wenn durch Wanderungsbewegungen neue soziale Differenzierungen entstehen, Identitäten und Zugehörigkeitsgefühle mitunter brüchig, fragil und verletzlich sind und deshalb das Anerkennen vermehrter Aufmerksamkeit bedarf (Micus-Loos, 2012, S. 303).
Im Folgenden beziehen wir uns auf die Anerkennungstheorie von Axel Honneth und im Besonderen auf die Auslegungen für pädagogische Zusammenhänge durch Werner Helsper und Angelika Lingkost (2002, vgl. auch Helsper et al., 2001). Sie unterscheiden drei Formen von Anerkennung, die für das Handeln von Lehrpersonen – insbesondere im Migrationskontext – von fundamentaler Bedeutung sind: die «emotionale Anerkennung», die «moralische Anerkennung» und die «Anerkennung der Person».
Emotionale Anerkennung: Arbeitsbündnis auf Vertrauensbasis
Diese erste Form der Anerkennung, die emotionale Anerkennung und «Liebe» (Honneth, 2014 [1994]), S. 153 f.), wird idealerweise vor allem in den familiären Primärbeziehungen, also in einer Form von Eltern-Kind-Beziehung verwirklicht, hat aber auch im pädagogischen Handeln grosse Bedeutung: Ein funktionierendes Arbeitsbündnis zwischen Lehrperson und Schülerin oder Schüler kann sich am besten entwickeln, wenn es auf der Basis gegenseitigen Vertrauens steht. Diese Basis bildet gewissermassen den Boden für schulisches Lernen. Lehrpersonen können massgeblich zu einem solchen Vertrauensverhältnis beitragen, indem sie den Schülerinnen und Schülern mit einer «positiven, freundlichen und offenen Haltung» (Helsper & Lingkost, 2002, S. 133) begegnen.
Entsprechend wird auch im Lehrplan 21 die Bedeutung der Lehrperson und ihrer Beziehung zum Kind betont:
Auch in einem Unterricht, der sich am Erwerb von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen orientiert, sind die Lehrpersonen absolut zentral. Sie gestalten zum einen fachlich gehaltvolle und methodisch vielfältige Lernumgebungen und Unterrichtseinheiten; zum anderen führen sie die Klasse und unterstützen die Schülerinnen und Schüler pädagogisch und fachdidaktisch in ihrem Lernen. Lehrerinnen und Lehrer stellen durch sensible Führung und möglichst individuell gerichtete Lernunterstützung sicher, dass möglichst alle Schülerinnen und Schüler ihren Voraussetzungen und Möglichkeiten entsprechend Kompetenzen aufbauen können. Dabei ist eine Beziehung zwischen Lehrperson und Kind, die auf persönlicher Zuwendung, gegenseitigem Respekt und Vertrauen basiert, grundlegend (D-EDK, 2016, S. 29; Kursive d. d. Verf.).
Anerkennung in der Gleichheit: Alle haben gleiche Rechte
Bei der zweiten Form der Anerkennung – der «moralischen Anerkennung» – geht es um Anerkennung in der Gleichheit. Alle Schülerinnen und Schüler sind gleich im Sinn gleichberechtigter Ansprüche auf Bildungschancen, unabhängig von Faktoren wie sozialer, ethnischer, nationaler Herkunft, Glaubensüberzeugung oder Geschlecht (Helsper & Lingkost, 2002, S. 133 f.; Helsper et al., 2001, S. 32 f.).
Der Lehrplan 21 bezieht sich bei dieser Frage auf die Grundrechte, wie sie