Die inneren Fesseln sprengen. Phyllis Krystal

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Die inneren Fesseln sprengen - Phyllis Krystal

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aufhörte, mich zu erstaunen. Manchmal versuchte ich, diesen Zustand willentlich zu erreichen, schaffte es aber nie, denn das Erreichen dieses Zustandes scheint jenseits unserer bewussten Kontrollmöglichkeiten zu liegen. Zunächst war ich auch etwas erschrocken über meine Haltungsveränderung. Wenn ich sah, wie unmenschlich manche Menschen mit anderen umgingen, die Kriege, Morde, Vergewaltigungen und Sorgen, fühlte ich trotz des Grauens – wie Browning sagte: »Gott ist in Seinem Himmel, alles ist in Ordnung mit der Welt!« Einige Minuten vorher wäre ich beim Anblick dieser Weltszenen vor Depression zusammengesunken. In diesem anderen Zustand war ich jedoch für einen Moment befreit von der Welt und konnte alles aus anderer Perspektive beobachten, wissend, dass all das unvermeidlich ist für den so notwendigen Lernprozess, der nur dadurch möglich wird.

      Von oben gesehen war der Bildteppich immer wunderschön mit brillierenden Farben, hell und dunkel, alle kunstvoll harmonisch verwoben, ein komplexes Muster bildend; alles war an seinem richtigen Platz. Allerdings sah der gleiche Bildteppich von unten, von unserer begrenzten, bewussten Perspektive aus betrachtet, ganz anders aus: Das Muster war unscharf, undeutlich, denn viele Knoten und lose Fäden verdeckten das wunderschöne Design, das ich von oben gesehen hatte, und alle Farben schienen einfach zusammenzulaufen. Es wurde mir klar, dass das wahre Muster von der Perspektive des Höheren Selbst aus erkennbar ist.

      Unsere Leben sind mit denen anderer verflochten, damit alle lernen können, und wir ziehen solche Menschen und Erfahrungen auf uns, die uns das lehren, was wir lernen müssen. Da wir nicht über unsere begrenzte Sichtweise hinaus sehen können, erscheint das Muster hässlich und unsauber und somit falsch. Aber von oben betrachtet, wo das Design klar erkennbar ist, ist alles, wie es ist, wie es sein muss – so, wie wir es gewoben haben. Sogar die negativen Anteile sind unverzichtbarer Teil des Ganzen.

      Dann erkannte ich, dass sogar »die Knoten richtig sind«; diesen Ausdruck benutzten wir oft, um vermeintlich negative Erfahrungen zu beschreiben, die aber oft genau diejenigen sind, die uns dazu bewegen, unsere Spur zu verlassen, uns zwingen, zu wachsen. Die meisten Menschen haben eine starke Tendenz, ein entspanntes und leichtes Leben zu führen, wenn die Dinge zu gut laufen. Das führt zu einer Stagnation und verhindert Wachstum. Dies liegt nur daran, dass wir das wunderschöne Muster, das wir alle zu weben wünschen, nicht erkennen können und lediglich die schlecht aussehende Unterseite sehen, die wir fälschlicherweise beurteilen.

      Als ich dieses Bild einer jungen Frau mitteilte, die zu mir kam, während sie noch um den Tod einer geliebten Person trauerte, fragte sie mich gequält: »Würden wir nicht alle indifferent und sorglos werden, wenn wir die Sichtweise hätten, die Du beschreibst?«

      Ich verstand genau, was sie meinte, weil es zunächst auch meine Befürchtung gewesen war, aber die Erfahrung zeigt etwas anderes. Es bewirkt, ganz im Gegenteil, mehr Einfühlungsvermögen und größeres Verständnis und es vermindert die Kritik an anderen. Nur mit solchen inneren Haltungen kann Hilfe angeboten werden.

      Ein junger Mann, mit dem ich arbeitete, hatte eine andere Reaktion, als er die Bildteppich-Perspektive erreichte. Er wollte diese nicht mehr verlassen, um nicht in das »gewöhnliche, düstere Bewusstsein des täglichen Lebens zurückzukehren«, wie er es ausdrückte. Ebenso wenig wollen diejenigen, die Drogen nehmen, um Langeweile und Stumpfheit, Angst und Hässlichkeit in ihren Leben zu entgehen, die Drogen absetzen.

      Wir wurden immer und immer wieder gewarnt, dass wir nur durch ein Leben in einem Körper und in dieser profanen Welt an uns arbeiten können, um das Ziel der Freiheit zu erreichen, in welcher der Bildteppich einen kleinen Einblick gewährt. Wir müssen arbeiten, um das Recht zu erhalten, dort dauerhaft zu verweilen. Jeder Rückzug aus diesem Leben verzögert den Prozess nur.

      Der Schlüssel, der das Tor des Käfigs öffnet, in dem wir gefangen sind, kann nur in dem Käfig gefunden werden, der wiederum selbst in der Welt, in der wir leben, eingeschlossen ist. Der Weg, um diesen Schlüssel zu finden, besteht darin, tief in uns hineinzuschauen, um zu erkennen, wo wir uns an dessen Gitterstäben festhalten und somit an Dinge, Menschen oder Glaubenssätze gebunden sind.

      Sobald ich die Bedeutung der Szene des im Käfig gefangenen Tieres verstanden hatte, realisierte ich auch, dass die Anleitungen und Instrumente, die wir über die Jahre bekommen hatten, perfekt entworfen waren, um uns zu helfen, frei von falschen Sicherheiten zu werden und loslassen zu können von dem, was uns im Käfig hält.

      Die Szene des im Käfig gefangenen Tieres ist tatsächlich der Kern der Arbeit und gibt uns das zentrale Thema, worum sie sich dreht. Um ganz frei zu sein, müssen wir uns von allem und allen loslösen, was uns bindet oder beherrscht bzw. in dem wir unsere Sicherheit zu finden glauben, anstatt in dem Höheren Selbst in jedem von uns.

      Ich erinnerte mich an Jesus, der einem wohlhabenden Mann riet, seine Eltern, seine Frau und sein Zuhause zu verlassen und ihm zu folgen. Ich verstand nun, dass es hierbei nicht unbedingt darum ging, sie wortwörtlich physisch zu verlassen, indem sie vernachlässigt wurden oder angenommene Verantwortung einfach abgelegt wurde. Eher scheint es, als ob es sich auf das Ablösen von familiären Abhängigkeiten bezieht, die ja oft hinderlich sind bei der Hingabe an das Höhere Selbst und der Freiheit, dessen Führung und Willen zu folgen, anstatt dem Willen unseres Egos oder dem anderer Personen.

      Ein wichtiger Teil unserer Arbeit besteht darin, diejenigen Bindungen oder Fesseln zu lösen, die uns an jemand oder etwas binden, worin wir unser Vertrauen setzen und die somit zu Göttern für uns werden. Da diese niedrigeren Götter vergänglich sind und uns weggenommen werden können, sind sie als Quelle für unsere Sicherheit unzuverlässig. Es ist hierbei nicht wichtig, ob diese Verbindungen aus Liebe, Bedürftigkeit, Mitleid, Angst, Hass oder irgendeiner anderen Emotion entstanden sind. Wichtig daran ist, dass sie die Macht besitzen, uns in Abhängigkeit zu halten und an Dinge zu binden anstatt an das Höhere Selbst.

      Über die Jahre entstand ein Muster oder eine Sequenz an Schritten, die zu einer Methode geführt hat, die von zwei Menschen in Partnerarbeit angewendet werden kann, sodass beide sich befreien und innerlich wachsen können. Die Methode bietet auch ein System, das von professionellen Therapeuten mit deren Klienten genutzt werden kann, denn das Integrieren des Höheren Selbst in die Arbeit eröffnet eine Dimension, die den Heilungsprozess sehr stark beschleunigen kann.

      Wenn ein menschliches Wesen gewillt ist, sein Bewusstsein anzuheben und den Kontakt zu der uns innewohnenden Weisheit und Heilkraft aufzunehmen, wird die Arbeit, welcher Natur sie auch sein mag, verfeinert und bestärkt, da sie jenseits der Dominanz durch das Ego liegt. Es ist sowohl für den Klienten als auch für den Therapeuten wichtig, das Höhere Selbst um Führung zu bitten, da Hilfe leichter gefunden werden kann, wenn beide bereit sind, die Unterstützung des gemeinsamen Höheren Selbst zu suchen.

      Uns wurden viele verschiedene Arten von Bindungen und Fesseln aufgezeigt, die wir in den nächsten Kapiteln besprechen möchten. Es werden auch Anweisungen dazu gegeben, wie diese abgelöst werden können, was häufig ein Wiederbeleben alter Pubertätsrituale beinhaltet, die in unserer Zeit leider außer Gebrauch geraten sind.

      Die ersten Bindungen werden in unserer Kindheit geformt – zu Eltern, Erziehenden, engen Verwandten, Geschwistern, Lehrern, Freunden und anderen Menschen, all diejenigen, die an der Prägung und Programmierung von Kindern beteiligt sind. Später bilden sich Bindungen zu Freunden, Liebhabern, Ehepartnern, anderen Familienmitgliedern, Kindern und Menschen, die für Sicherheit stehen, seien sie lebend oder tot. Es gibt durchaus auch subtilere Bindungen an persönliche Eigenarten oder Meinungen oder auch an starke Emotionen wie Wut, Eifersucht, Angst und Stolz. Bindungen können auch aus Verlangen nach Dingen entstehen wie Nahrung, Alkohol, Drogen, Geld, Juwelen, Kleidung, Häuser, Autos, Macht, sozialer Status, Ausbildung, Erfolg, um nur einige zu nennen. Letztendlich gibt es auch noch die Bindung an das Leben selbst, was viele Menschen solche Angst vor dem Tod haben lässt.

      Bei Menschen, die, während sie noch in dieser Welt lebten, Loslösungen praktiziert hatten, haben wir oft erlebt, dass der Tod ein einfaches und

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