Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung. Hieronymus Cardanus
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Religion und Frömmigkeit
Ich bin geboren in der Zeit der größten Religionswirren, hatte, von Armut niedergedrückt, zahllose Gelegenheiten zum Abfall, habe auf meinen Reisen viele Menschen kennengelernt, die der Religion nicht nur fremd, sondern feindselig gegenüberstanden – wenn ich mich trotz alledem nicht habe verführen lassen, so ist dies mehr einem Wunder als meiner Weisheit, der göttlichen Hilfe eher als meiner Stärke zuzuschreiben. War ich doch auch von früher Jugend an zu beten gewohnt: »Herr mein Gott, in deiner grenzenlosen Güte schenke mir ein langes Leben, Weisheit und Gesundheit an Leib und Seele.« So ist es kein Wunder, wenn ich stets ein treuer Anhänger meiner Religion und ein gottesfürchtiger Mann geblieben bin. Auch andere Gaben sind mir zuteil geworden, wie man meinen könnte, aber sie waren derart, dass sie offenbar eher einem andern zu Nutz und Vorteil wurden als mir. Ich war in Wirklichkeit ununterbrochen krank und war gelehrt, um es gerade herauszusagen, mehr in solchen Dingen, die ich gar nicht studierte und die ich auch von keinem andern gelernt habe, als in denen, deretwegen ich den Lehrern nachlief.
Meinen Kindern war ich ein liebevoller Vater, und ich habe damals gegen den Tod und das Leiden meines Sohnes nach Kräften gekämpft. Er sollte sterben, und wenig fehlte, so hätte er die Welt ohne Nachkommenschaft verlassen; nun habe ich von ihm einen Enkel, der, wenn ich mich nicht täusche, noch im Jahre seines Todes zur Welt kam. – Doch was soll dies? Warum willst du der Menschen Leiden und Elend dem Glück der Seligen gegenüberstellen? Freimütig sei es gesagt: Würde er denn ewig leben, wenn er damals nicht gestorben wäre? Was soll das also nur? Was habe ich dabei verloren? O eitel törichtes Denken der Menschen! Sträflicher Wahnwitz!
Ich gedenke im Gebete nicht nur der göttlichen Majestät, sondern auch der seligsten Jungfrau Maria und des heiligen Martinus; denn ein Traum hat mir verheißen, dass ich unter seinem Schutze einst noch ein ruhigeres, langes Leben führen werde.
Ich habe vor Jahren einmal eine Abhandlung geschrieben, von der ich hier einen Auszug geben will. Ich führte darin aus, dass die Trübsal dieses Lebens in keiner Weise mit dem Glück verglichen werden könne, das wir vom anderen Leben uns erhoffen. Wenn derartige übernatürliche Hoffnungen uns beseelen, so sind sie freilich so stark, dass wir nicht an ihnen zweifeln können und sie für das höchste Gut halten möchten; sobald sie uns aber entschwunden sind, scheint uns der ganze Glaube wie ein Traum. O dass es Gott gefallen hätte, diese Charybdis des Zweifels zum höchsten Heile von uns zu nehmen! Viel eifriger würden die Menschen den göttlichen Weisungen gehorchen, viel treuer der Gebote Gottes gedenken und die Wohltat dieser Gebote viel reichlicher genießen, viel frömmer würden sie leben und andern zum guten Beispiele sein! – Doch ich sehe ein, dass nur Schande und Schmach mich für meine Mühe lohnt, den Menschen ein Gesetz der Weisheit aufnötigen zu wollen. Frommes Mitleid mit den Leiden dieser Armen riss mich hin. So habe ich auch über die Unsterblichkeit der Seele in der besagten Abhandlung einige Gedanken vorgebracht, die mit Plato, Aristoteles und Plotin, mit dem gesunden Menschenverstand und der allgemeinen Lehre übereinstimmen, die natürlichsten Gedanken, glaube ich, von all denen, die einfache Laien darüber geäußert haben. Bei Plato nämlich ist die Tiefe der Gedanken, bei Aristoteles die scharfe logische Einteilung, bei Plotin die klare letzte Definition, was hervorgehoben zu werden verdient, der Hinweis auf die Folgen aber wird vermisst – eine Entdeckung, die freilich nicht ich gemacht habe, sondern Avicenna105, dessen Ansicht in diesem Punkte, als die vernünftigste aller Philosophen, ich gerne unterschreibe.
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